Martin Kröger: Der Erste Weltkrieg im Nahen Osten (= Kriege der Moderne), Stuttgart: Reclam 2022, 158 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-15-011422-3, 17,95
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Martin Kröger (Hg.): Die Karawane des Gesandten und andere Reiseberichte deutscher Diplomaten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009
Wenn die "Ostfront" im Ersten Weltkrieg in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit der Historiker gefunden hat, so blieb doch der Krieg im "Nahen Osten", also im Osmanischen Reich bzw. im "Orient" wie man damals sagte, stark unterbelichtet - zumal in der deutschsprachigen Historiografie, sieht man einmal von den deutsch-türkischen Beziehungen und den Armeniergreueln ab. Die Auswahlbibliografie des Verfassers (154f.) umfasst nicht von ungefähr nur ca. 20 Titel.
Als Einstieg hat Kröger einen Erlebnisbericht von Paul Schwarz gewählt, der "Petroleumsachverständiger, selbsternannter Bombenleger und späterer Diplomat" war und dessen Bericht er im Archiv des Auswärtigen Amts aufgespürt hat. Auf wenigen Seiten wird hier gezeigt, was nach Meinung des Verfassers den gesamten Krieg im Osten charakterisierte: "es geht um Orte fern der bekannten Kampfplätze, es geht um erstaunliche individuelle Leistungen, aber auch um realitätsfernen Aktionismus, fehlende Abstimmung zwischen Bündnispartnern sowie um ein kaum vorstellbares Informationsdefizit über die Region und die realen Möglichkeiten dort." (12).
Ja, darum geht es in der Tat in diesem Buch - aber glücklicherweise auch um sehr viel mehr. Kröger gelingt es in einer durchgehend flott und anschaulich geschriebenen Darstellung, eine große Menge von Facetten dieses Krieges einzufangen, der eine unglaubliche Mischung aus imperialistischen Bestrebungen und nationalem Verteidigungskampf, aber auch extrem nationalistischen Ansprüchen der in diesen Krieg verwickelten Nationen bzw. Völker darstellte.
Die Darstellung beginnt mit den Problemen des deutsch-türkischen Bündnisses zu Kriegsbeginn. Ich hätte mir allerdings eine etwas ausführlichere Skizze von dessen Tradition und Situation 1913/14 mit der sogenannten "Liman-von Sanders-Krise" gewünscht, da sich hier bereits das große Missverhältnis zwischen türkischen Ansprüchen und deutsch-imperialistischen Absichten zeigte - eine Spannung, die sich durch den ganzen Krieg zieht. Hier gleitet Kröger leider in Details ab, die in einen so schmalen Band nicht hineingehören, aber das Foto der deutschen Offiziere in türkischer Uniform (35) ist sehr "sprechend". Interessant sind in diesem Zusammenhang die im Text eingestreuten Info-Seiten, etwa über die deutschen Befehlshaber in der Türkei (59-61).
Zu dem von Kröger pointiert als "realitätsferner Aktivismus" beschriebenen Initiativen Deutschlands gehörte das inzwischen mehrfach analysierte Bemühen, zu Kriegsbeginn eine Art "Dschihad" gegen englische und französische Imperialisten loszutreten. Ausführlich wird über vorgebliche Experten referiert, die von der deutschen Militärmission in der Türkei in die umkämpften Gebiete geschickt wurden, um dort "Revolutionierungen" zu betreiben. Allerdings waren das meist Männer, die keinerlei Ahnung von den dortigen Gegebenheiten und der "islamischen" Kultur hatten.
Die kriegerischen Aktivitäten der Briten werden auf den Seiten 71-82 skizziert. Beispielhaft der Kampf um Kut-el-Amara, in den vor allem indische Hilfstruppen geschickt und verheizt wurden. Die Niederlage wurde dann kompensiert durch die Frontverschickung weiterer indischer Truppen sowie chinesischer Zwangsarbeiter. Am Rande sei bemerkt, dass diese Inszenierung dann auch an der Somme im Sommer und Herbst 1916 massiv praktiziert wurde. Großbritannien bestand auch im Krieg keineswegs allein aus Engländern und Briten.
Weiterhin wirft die Arbeit ein Licht auf den Kaukasus-Krieg zwischen Russland und der Türkei (ab 83). Die Türkei (und Deutschland) zielten auf die russischen Ölquellen, die Russen hingegen wollten sich an den Dardanellen festsetzen. Rasch aber intensiv wird gezeigt, wie die Türkei nach der Niederlage die Armenier beschuldigte, die zu einem kleinen Teil auf russischer Seite gekämpft hatten. Der Verfasser hat sich entschieden, den dann folgendem Völkermord an den Armeniern nur fünf Seiten zu widmen (87-93). Trotz der Kürze gelingt ihm aber eine klare, weil dezidierte Darstellung der Gräuel und ihrer Bedeutung, wobei der deutsche Anteil daran (Wegsehen und Indifferenz) gebührend beschrieben wird. Man hätte sich längere Ausführungen gewünscht, aber diese fünf Seiten sind wirklich sehr "dicht" geschrieben.
Relativ ausführlich wird der Kampf um die Dardanellen sowie die Gallipoli-Katastrophe der australischen und neuseeländischen britischen Truppen (ANZAC) behandelt (97-106). Hervorzuheben ist hier die gelungene Karte der einzelnen Kämpfe auf der Halbinsel Gallipoli (99). Vielleicht hätte der Verfasser auch die fortdauernde Bedeutung der ANZAC-Erfahrung für die Entwicklung der neuseeländischen und australischen Nationen zumindest streifen können. Weiter wird - ebenfalls mit vorzüglicher Karte - über den Kampf um den Suez-Kanal am 3. Februar 1915 berichtet, eine türkische Operation unter deutschem Oberkommando geführt, und zwar von Friedrich Kreß von Kressenstein, dem Kommandanten der 4. Osmanischen Armee. Auf Seite 113 wird in einem Info-Kasten ausführlich über "die deutsche Fliegertruppe und den Beginn der Luftbildarchäologie" berichtet, weil hier am Suezkanal massiv Beobachtungs-Doppeldecker eingesetzt wurden. Für die Kämpfe hatten die Flugzeuge allerdings kaum Bedeutung, aber die erhaltenen Aufnahmen sind äußerst wertvoll für die Archäologie, weil sie antike Ruinen zeigen, die heute gar nicht mehr oder kaum noch erhalten sind.
Ausführlich werden der arabische Aufstand gegen die osmanische Herrschaft und die Geschichte sowie der Mythos von "Lawrence von Arabien" dargestellt. Hier wird vor allem gezeigt, wieviel Geld von britischer, aber auch von deutscher Seite in diese Aktionen der arabischen Guerrilla zur Destabilisierung des Osmanischen Reiches beziehungsweise deren Abwehr gesteckt wurde. Die monatlichen Kosten auf deutscher Seite beliefen sich auf ca. 75.000 (Gold)-Mark, wohingegen die Briten bis zu 200.000 Pfund/Monat aufwandten.
Abschließend (ab 139) geht es um das Kriegsende 1918 und die Folgen des Krieges für die Türkei bis zur Gründung der Republik 1923 sowie die von den Alliierten vorgesehene "neue Ordnung" für den Nahen Osten, beginnend mit dem vorzüglich kartographierten Sykes-Picot-Abkommen von 1916. Und in einer Art Schlusswort weist der Verfasser auf die "ungelösten Problem bis heute" hin (146-148). Nachdenklich sind die abschließenden Sätze des Werkes: "Die Umbrüche, die der Erste Weltkrieg im Nahen Osten verursachte, radikalisierten nicht nur die arabische Unabhängigkeitsbewegung. Zugleich wurden auch die ideologischen Grundlagen für den radikal politisierten Islam gelegt, den man heute als Islamismus bezeichnet." Die Verantwortung der europäischen Großmächte für die aktuelle Instabilität im Nahen Osten sollte nicht vergessen werden.
Kurz: ein lesenswertes, weil kluges und informatives Buch, das zum Weiterlesen einlädt, weshalb ich mir weiterführende Literaturhinweise gewünscht hätte, die leider fehlen.
Gerd Krumeich