Christian Grataloup: Die Geschichte der Welt. Ein Atlas, München: C.H.Beck 2022, 639 S., zahlr. Kt. und Abb., ISBN 978-3-406-77345-7, EUR 39,95
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"Geschichten der Welt" tauchen in jüngster Zeit häufiger auf. Ewald Frie hatte zuletzt eine für eine junge Leserschaft erzählt. Akira Iriye und Jürgen Osterhammel gaben eine solche in sechs Bänden heraus. [1] Sie alle lassen sich der neueren Globalgeschichte zuordnen und sind interessanterweise in ihren deutschen Ausgaben allesamt im selben Verlag erschienen. Auch wenn man weiter zurückgeht, findet sich der Titel schon, allerdings dann in einer Weltgeschichte älteren Stils, die tendenziell eine Geschichte der Hochkulturen erzählte oder die Geschichte der Welt aus einer rein westlichen bzw. europäischen Perspektive betrachtete. [2] Von einer Welt- oder Universalgeschichte im Stil der Aufklärung hier ganz zu schweigen.
Was hat es also mit einer weiteren Geschichte der Welt auf sich, die im Untertitel als Atlas präsentiert wird? Zunächst: Es handelt sich um eine Übersetzung eines französischen Buches, das den Titel Atlas historique mondial trägt und 2019 erschienen ist. Den Titel würde man direkt in etwa als Historischer Weltatlas übersetzen, was der Sache schon näherkommt, denn auf rund 600 Seiten begegnen uns Karten, mal einseitige, mal doppelseitige. In den zwei kurzen Einleitungen (4-11) von Patrick Boucheron und Christian Grataloup wird das Buch als eine Weltgeschichte in Karten präsentiert, womit wir eine weitere Variante eines Titels hätten. Damit wird auch deutlich, dass das Buch in der Tradition der französischen "Géohistoire" steht, die unter anderem auf Fernand Braudel zurückgeht, der darunter noch die sich nur langsam verändernde Geschichte der Beziehungen der Menschen zu ihrer geographischen Umwelt verstand. Die Verbindung von Geographie und Geschichte zeigt sich noch heute im französischen Fächersystem, in dem beide nicht selten zusammen studiert werden bzw. die Geographie in der Geschichte einen festen Platz hat (und umgekehrt). Grataloup mag einigen schon durch seine - ebenfalls ins Deutsche übersetzte - Erfindung der Kontinente - bekannt sein. [3] Auch als Geograph, der sich dazu Gedanken machte, wie man die Geschichte der Welt heute schreiben müsste, hat er sich einen Namen gemacht. [4] Insofern passt er sehr gut auf das Titelblatt, auf dem er im Grunde eher als Herausgeber stehen müsste, denn die Karten selbst, wenngleich teils aktualisiert oder neu gezeichnet, gehen auf den großen Fundus der Geschichtszeitschrift L'Histoire zurück, für deren Artikel in den letzten rund 40 Jahren Karten gezeichnet wurden. An der Herstellung des vorliegenden Werks haben also unzählige Kartograph:innen, Charlotte Rousset als Textredakteurin (neben Grataloup) und für die deutsche Version noch fünf Übersetzer:innen mitgewirkt. Daran lässt sich wieder einmal sehen, dass Karten - und viel mehr noch Atlanten - meistens ein Kollektivwerk sind. Das war schon bei Mercator so, zeigt sich im Gothaer Perthes-Verlag und zieht sich bis in die heutige digitale Kartographie hinein.
Anders als noch Georges Dubys Atlas historique (1978), der Boucheron zufolge eine "weltumfassende Geschichte der Zivilisationen" schreiben wollte (7), möchte dieser Atlas nicht alles entlang einer chronologischen Linie erzählen. Er rückt vor allem auch andere Regionen und Kulturen in den Vordergrund und wirft Schlaglichter auf die jüngste Geschichte wie etwa auf den Klimawandel.
Um zu verstehen, welche Weltgeschichtskonzeption diesem Kartenbuch zugrunde liegt, wirft man am besten einen Blick auf die Gliederung, die jenseits von Einleitung und Anhängen (mit fünfseitiger Bibliographie, einem Register und ausführlichem Inhaltsverzeichnis) 13 Kapitel umfasst, die auch als Daumenkino erschließbar sind.
Insgesamt handelt es sich um eine so gelehrte wie kartographisch schön illustrierte Geschichte der Welt, die nicht einfach chronologisch erzählt ist, sondern bisweilen auch Regionen, die sich autonom entwickelten, parallel betrachtet und von den Einzelkarten aus auch Querverweise macht, wodurch Regionen, Themen oder Ereignisse verknüpft werden. Zu Beginn herrscht ein hohes Erzähltempo (mehrere Millionen Jahre auf wenigen Seiten), seit der Alten Welt wird es langsamer. Die Neuzeit nimmt mit Europa, der europäisch dominierten Welt und der Weltherrschaft des Westens zusammen mit dem eher kürzeren Kapitel 10 zu den nicht-europäischen Mächten des 18. und 19. Jahrhunderts die Hälfte des Buches ein. Das letzte Kapitel, "Die Welt seit 1989" betitelt, wird dann auf rund 40 Seiten dargestellt und betrachtet - mit Ausnahme der ersten Karte: "Die neuen Staaten seit 1991" - gerade nicht "die Welt", sondern verschiedene, teils brisante Ausschnitte wie den Arabischen Frühling, die jüngsten Kriege, das wiedervereinigte Deutschland oder die Abkommen zum Schutz der Meere. Trotz aller redlichen Bemühungen, die "Welt" zu betrachten oder nicht-westliche Perspektiven einzubringen, bleibt es ein Weltatlas aus europäisch-westlicher Perspektive; bisweilen ist auch die französische nicht zu verbergen, wenn etwa der Einstieg in das neuzeitliche Europa mit einer Frankreich-Karte zum Sommer 1789 gemacht wird.
Die Atlas-Fans werden diesen Weltatlas lieben. Sie werden in den schönen Karten schwelgen, die Einführungstexte zu den Karten lesen, sich erwähnte Orte vorstellen (und über vergessene Übersetzungen hinwegsehen; beispielsweise ist "Plaisance" die Stadt Piacenza); sie werden im Kopf auf Reisen gehen, den Pfeilen folgen, die für Migrationen, Einmärsche oder Handelsbeziehungen stehen, die Legenden entziffern und die Kartenaussagen zu verstehen versuchen. Viele Karten lassen sich auch im Schulunterricht oder in Vorlesungen verwenden. Aber darüber hinaus ist Vorsicht geboten, weil wir - trotz bisweilen behaupteter Forschungsstände - nichts über die wissenschaftlichen Grundlagen erfahren, weil es weder Fußnoten noch einen Anmerkungsapparat gibt, den man in der heutigen Zeit ja durchaus ins Internet (auf ein Repositorium) hätte verlagern können und per QR-Code von jeder Karte aus darauf verweisen. Damit soll gar nicht bestritten werden, dass nicht hinter jeder Karte ein "enormes Fachwissen" steckt (5); es ist einfach nur so, dass man es glauben muss und nicht direkt überprüfen kann. Noch viel besser wäre es freilich, wenn sich die Karten als Dateien downloaden ließen; und das non plus ultra wäre, wenn sie sich auch noch bearbeiten oder wenigstens kommentieren ließen. Es dürfte kaum wundern, dass zu einzelnen Karten die Forschung und teils auch die Kartographie schon etwas weiter ist. Mit dem Viabundus-Projekt zur Digitalisierung der Handelsstraßen soll hier nur ein Beispiel in Bezug auf die Hanse-Karte (198-199) erwähnt werden. [5]
Bei den vielen historischen Karten ist ein Einbinden lokaler Akteure oder Akteure der von den Europäern dominierten Gebiete freilich heute nicht mehr möglich, wie es eine partizipative Kartographie nahelegt. Umso mehr aber haben wir heute als jene, die Karten zeichnen oder verlegen, doch eine Verantwortung und müssen diese Perspektiven mitdenken - bis hin zu der Frage, wie wir heute Räume historischer Gesellschaften erzählen, die teilweise selbst noch gar keine Karten hatten oder diese Karten ganz anders gezeichnet hätten. Auch muss man sich fragen, wie deutlich man mit klaren Farben und Grenzlinien Gewissheiten erzeugen darf, die es in der Vormoderne - sei es aufgrund eines anderen Verständnisses von Territorialität, sei es aufgrund von Quellenmangel - entweder gar nicht gegeben hat oder nicht behauptet werden können. Diese Kartographie-kritischen und raumhistorischen Aspekte kommen in dem Atlas etwas zu kurz. Insofern bleibt es den Nutzer:innen überlassen, diese kritischen Fragen an die Karten zu stellen und nicht zu vergessen, dass jede Karte eine Konstruktion ist: im Hinblick auf das Genre wie auf die intendierte Aussage. Ähnliches gilt für den Atlas als Kartenbuch, einer speziellen, raumbezogenen Wissensform, deren Aufkommen wir mit Ortelius und Mercator verbinden. Ein Blick in die Geschichte historischer und geographischer Atlanten seit dem 16. Jahrhundert vermag die raumzeitliche Ordnungsmacht von Atlanten nicht nur zu bereichern, sondern durchaus auch Anregungen zur Komposition eines Atlas in (neuerer) globalgeschichtlicher Perspektive zu geben. [6]
Aus einer raumhistorischen Perspektive könnte man sich freilich auch noch andere Karten in einem neuen Weltatlas vorstellen: die 'Welten' anderer Gruppen (als der Geographen), etwa die von Religionen; vormoderne Vorstellungen von Welt, die den Kosmos mitdenken; oder eine Kartenserie der Orte, an denen Welt durch die Herstellung von Verbindungen, also durch Konnektivität, konstituiert wird, seien es Messeplätze, Börsen, Flughäfen oder Pilgerorte. Und dann wäre auch abzubilden, wer an einer solchen Welt aus den verschiedensten Gründen nicht partizipieren kann. Das wäre dann freilich ein ganz anderer Weltatlas. Aber weshalb sollte man - nach all den raumtheoretischen Debatten der letzten Jahre - nicht zukünftig in eine solche Richtung denken?
Anmerkungen:
[1] Ewald Frie: Die Geschichte der Welt, München 2019; Akira Iriye / Jürgen Osterhammel (Hgg.): Die Geschichte der Welt, 6 Bde., München 2012ff.
[2] Hugh Thomas: Geschichte der Welt, Stuttgart 1984.
[3] Christian Grataloup: Die Erfindung der Kontinente. Eine Geschichte der Darstellung der Welt, Darmstadt 2021.
[4] Christian Grataloup: Faut-il penser autrement l'histoire du monde?, Paris 2011.
[5] Bart Holterman et al. (Hg.): Viabundus. Map of premodern European transport and mobility Documentation, Version 1.2 Pre-modern Street Map 1.2 (23. September 2022). URL: https://www.landesgeschichte.uni-goettingen.de/handelsstrassen/map.php (15.03.2023).
[6] Jean-Marc Besse (Hg.): Forme du savoir, forme de pouvoir: Les atlas géographiques à l'époque moderne et contemporaine. Neuauflage [Online], Rom 2022. DOI: https://doi.org/10.4000/books.efr.21438 (15.03.2023).
Susanne Rau