Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990, Hamburg: Hoffmann und Campe 2023, 576 S., ISBN 978-3-455-01568-3, EUR 28,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Christian Booß / Helmut Müller-Enbergs: Die indiskrete Gesellschaft. Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern, Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft 2014
Regina Göschl : DDR-Alltag im Museum. Geschichtskulturelle Diskurse, Funktionen und Fallbeispiele im vereinten Deutschland, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2019
Gerhard Weigt: Demokratie jetzt. Der schwierige Weg zur deutschen Einheit. Ein Zeitzeuge berichtet, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015
Anna Saunders: Memorializing the GDR. Monuments and Memory after 1989, New York / Oxford: Berghahn Books 2018
Peter Jochen Winters: Markus Wolf. Ein biografisches Porträt, Berlin: Metropol 2021
Wolfgang Schwarz: Brüderlich entzweit. Die Beziehungen zwischen der DDR und der ČSSR 1961-1968, München: Oldenbourg 2004
James Graham Wilson: The Triumph of Improvisation. Gorbachev's Adaptability, Reagan's Engagement, and the End of the Cold War, Ithaca / London: Cornell University Press 2014
Ignaz Lozo: Gorbatschow. Der Weltveränderer, Stuttgart: Theiss 2021
Katja Hoyer geht davon aus, dass die Geschichte der DDR nach deren Niederlage auf deutschem Boden von den Siegern mit dem Ziel geschrieben wurde, diese zu entwerten. Die DDR werde "als grauer, eintöniger, verschwommener Fleck dargestellt" und "pauschal als Fußnote der deutschen Geschichte" abgetan (20). Diese Ansicht schreibt Hoyer - ebenso pauschal und undifferenziert - einer "westlichen Vorstellung" (20) zu. Dass die Geschichte der DDR keineswegs nur von westdeutschen, sondern auch von ostdeutschen Historikern geschrieben wurde, dass es dabei auch zu Kontroversen kam - all das zählt nicht, denn sie will ja das, was sie als Siegergeschichte bezeichnet, umschreiben.
Daher zeichnet sie ein fast durchgehend positives Bild der DDR und "der Ostdeutschen", die sich durchaus mit ihrem Staat identifizierten. So seien Anfang der 1950er Jahre viele von ihnen bereit gewesen, "die Ärmel hochzukrempeln", um das von der DDR-Regierung beschworene Ziel zu verwirklichen, "aus den Trümmern der alten Gesellschaft eine bessere aufzubauen" (110) - und das bei äußerst widrigen Umständen. Hier verweist sie vor allem darauf, dass die DDR sehr viel kleiner als die Bundesrepublik gewesen sei und über weniger natürliche Ressourcen verfügt habe. Trotz einiger Härten in diesem Jahrzehnt habe sich gegen dessen Ende "das Leben in der DDR allmählich eingependelt" (205) - streckenweise beschreibt Hoyer das Familienleben dort als eine Idylle. Die wirtschaftlichen Probleme seien weniger auf die Planwirtschaft, sondern auf Ulbrichts Ehrgeiz zurückzuführen, die Bundesrepublik wirtschaftlich zu überholen. Die vorherrschende Stimmung sei "nicht von Ablehnung des Ulbricht'schen und Neid auf Adenauers System geprägt [gewesen], sondern von Erleichterung und sogar Begeisterung" (219). Der Mauerbau brachte zwar manche schlimmen persönlichen Schicksalsschläge mit sich, aber infolge dieses Ereignisses beruhigte sich die Lage, und eine weitere Westwanderung wurde verhindert: "[I]m Großen und Ganzen war es so, als ob das Land kollektiv mit den Schultern zuckte und zurück an die Arbeit ging" (233). Und insgesamt entwickelte sich die DDR ja prächtig weiter: Das Leben normalisierte sich, mehr Wohnungen wurden gebaut, mehr Trabis fuhren auf ostdeutschen Straßen, mit dem Jugendkommuniqué von 1963 zeigte sich der Staat gegenüber jugendlichen Bedürfnissen aufgeschlossen, und die Frauenemanzipation kam schneller voran als im Westen - die DDR, so Hoyer, "war stets mehr als die Mauer" (270). Dass die DDR ohne die Mauer nicht lebensfähig gewesen wäre, kommt ihr nicht in den Sinn.
In den 1960er Jahren wuchs dann auch eine neue Generation "in eine eindeutig ostdeutsche Identität" hinein (297). Vor allem aufgrund ihrer sportlichen Erfolge konnte die DDR "ein internationales Profil gewinnen und ein Gefühl nationaler Identität entwickeln" (308). Die 1970er Jahre schließlich markierten "einen Höhepunkt hinsichtlich des Lebensstandards, und viele Menschen erlebten dieses Jahrzehnt als eine in materieller Hinsicht vergleichsweise von Komfort und Stabilität geprägte Zeit" (414). In den 1980er Jahren war vielen das Leben zwar "zu spießig und provinziell", aber für diejenigen, "die sich einen ruhigen Alltag im gemütlichen Heim wünschten, war sie [die DDR] ein stabiler Ort ohne große Nöte und Sorgen" (473). Der Rezensent fragt sich, warum es in dieser Situation 1989 zu einer Revolution kommen konnte und die Ostdeutschen im Zuge dieser Revolution so schnell ihre ostdeutsche gegen eine gesamtdeutsche Identität eintauschen wollten.
Diese Weichzeichnung der DDR - die Staatssicherheit kommt nur am Rande vor - wird unter anderem dadurch erreicht, dass vieles, was nicht in dieses Bild passt, weggelassen oder kleingeredet wird. So werden die hohen Flüchtlingszahlen der 1950er Jahre fast ausschließlich auf die Verlockungen des Wirtschaftswunderlands Bundesrepublik zurückgeführt - nur 14,2 Prozent der Flüchtlinge hätten sich persönlich bedroht gefühlt. Die X. Weltfestspiele der Jugend 1973 in Ost-Berlin werden als riesige, weltoffene Party beschrieben; dass die Staatssicherheit zur Absicherung der Veranstaltung einen gigantischen Aufwand betrieb und allein 9000 Personen vorher vorsorglich festnahm, erfährt man nicht. Hinzu kommt ein suggestiver, selektiver Umgang mit persönlichen Zeugnissen und Geschichten. Denn Hoyer hat eben nicht, wie sie schreibt, die unterschiedlichsten Biographien zur Illustration ihrer Aussagen herangezogen, sondern fast ausschließlich solche von Systemträgern (etwa Egon Krenz) und Angepassten (etwa des Schlagersängers Frank Schöbel). Die Opfer der DDR kommen hingegen kaum zu Wort. Wenn es einmal um das Thema Tod an der Grenze geht, schildert sie das Schicksal eines von einem DDR-Flüchtling erschossenen Grenzsoldaten.
Kein Wunder, dass Hoyer bei dieser Darstellungsweise typische "DDR-Erzählungen" ganz oder zumindest teilweise übernimmt. So wird etwa die Gründung der DDR als Reaktion auf die zeitlich früher erfolgte Gründung der Bundesrepublik dargestellt. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 sei zwar "ein spontanes Ereignis" gewesen, aber er sei "auch vom Westen gefördert" worden (187). Noch immer, so Hoyer, untersuchen Historiker "die Auswirkungen der westlichen Einmischung" (188). Stichhaltige Belege für diese Behauptungen, die an die offizielle DDR-Deutung erinnern, liefert sie nicht. Die DDR-Aufrüstung erfolgte ihr zufolge nicht bereits 1948 mit der Aufstellung der schwer bewaffneten Bereitschaftspolizei, sondern erst 1952 mit der Gründung der Kasernierten Volkspolizei - also nach entsprechenden ersten Schritten in der Bundesrepublik. Und die verstärkte Aufnahme von Vertragsarbeitern unter anderem aus Vietnam und Mosambik sei aus reiner "Solidarität" mit diesen sozialistischen Bruderstaaten erfolgt: "Das Konzept der 'Völkerfreundschaft' war dabei bedeutend mehr als eine hohle Phrase" (392). Man wundert sich über diese Naivität.
Überdies schreibt sie bestimmte Legenden oder Stereotypen fort, ohne sich im Geringsten damit auseinanderzusetzen. So übernimmt sie einfach die Formel von Wilfried Loth, dass die DDR "Stalins ungeliebtes Kind" gewesen sei - das Für und Wider diskutiert sie nicht. Die Offerte Stalins von 1952, ein einheitliches, demokratisches, aber neutrales Deutschland wiederherzustellen, war Hoyer zufolge natürlich ernst gemeint, aber Adenauer habe sie ja abgelehnt. Auch die Legende vom Machtkampf des Reformers Ulbricht und des Betonkopfs Honecker lässt sie wiederaufleben, ohne darzulegen, dass sich beide in der Ablehnung echter Reformen und einer Öffnung des Systems einig waren.
Aus ihrer Darstellung resultiert schließlich auch viel Verständnis für die DDR-Politik. Dass die DDR Menschen wegen ihrer politischen Gesinnung einsperrte und dann an die Bundesrepublik verkaufte, "geschah aus schierer wirtschaftlicher Verzweiflung" (356). Auch dass die DDR-Gesellschaft in einem Ausmaß militarisiert wurde, das alles im Westen Bekannte überstieg, wird unter Verweis auf die "angespannte geopolitische Lage und die Tatsache, dass die DDR sich an vorderster Front im Kalten Krieg befand" gerechtfertigt (400). Frühkindlicher Drill, die Einführung der Wehrkunde als Unterrichtsfach 1978 und der Druck auf junge Männer, die ein Studium aufnehmen wollten, sich für drei Jahre bei der Nationalen Volksarmee (NVA) zu verpflichten, werden zwar teilweise kritisiert. Aber die Militarisierung habe "durchaus auch positive Effekte" gehabt (404): Denn sie öffnete das ostdeutsche Militär für alle sozialen Schichten, so dass es erstmals in der deutschen Geschichte "unter den Offizieren zahllose junge Männer aus der Arbeiterklasse [gab], die in der NVA eine erfüllende Aufgabe fanden" (405).
Dabei werden Zusammenhänge und Begriffe entweder unzureichend, gar nicht oder falsch erklärt. So wird der Volksaufstand vom Sommer 1953 thematisiert, ohne vorher die II. SED-Parteikonferenz zu erwähnen. Warum die Arbeiter ausgerechnet Mitte Juni 1953 gegen die überhöhten Arbeitsnormen (und nicht, wie es fälschlich heißt, "Arbeitsquoten") revoltierten, bleibt daher völlig unklar. Unzutreffend ist die Erläuterung der Hallstein-Doktrin, die Hoyer zufolge nicht nur die diplomatischen Beziehungen, sondern auch die Wirtschaftsbeziehungen der DDR zu einem Drittstaat betroffen habe. Letztere wurden jedoch von der Bundesrepublik toleriert, von einem "faktisch[en] Handelsembargo" (206) kann keine Rede sein. Und das Prinzip der unter Honecker propagierten "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" wird auf völlig unverständliche Weise vorgestellt: "Der von den Werktätigen geschaffene Wert sollte zu ihren Gunsten direkt wieder investiert werden" (327).
Schließlich strotzt das Buch, das die seit 1990 erschienene Forschungsliteratur nur sehr selektiv wahrnimmt, nur so von Fehlern. Dabei mag man die Bezeichnung von FDJ-lern als "Jungsozialisten" (132), die Verwendung eines falschen Vornamens für Ernst Reuter (der hier als Fritz Reuter firmiert) und den Wehrmachtsdienstgrad von Stoph, der es nur zum Unteroffizier, nicht aber zum Offizier brachte, für Kleinigkeiten halten. Aber dass es in der DDR weder bei der Polizei noch in der Verwaltung Beamte gab, sollte der Autorin eigentlich bekannt sein. Und die Einrichtung des Bausoldatendienstes 1964 war keine "Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung" (232) - auch Bausoldaten leisteten Wehrdienst, allerdings mit dem Spaten. Und dass infolge von Ulbrichts Ägypten-Besuch die DDR "zu einer eigenständigen Nation geworden" war (301), ist nicht nachvollziehbar. Die Reihe ließe sich weiter fortsetzen.
Katja Hoyers Werk ist keine weiterführende, "neue Geschichte der DDR", sondern ein reines Ärgernis.
Hermann Wentker