Jan-Philipp Pomplun: Deutsche Freikorps. Sozialgeschichte und Kontinuitäten (para)militärischer Gewalt zwischen Weltkrieg, Revolution und Nationalsozialismus (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 244), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 354 S., ISBN 978-3-525-31146-2, EUR 65,00
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Die Sicht der historischen Forschung auf die Freikorps der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist heterogen und von verfestigten Narrativen geprägt. Die Bewertungen reichen vom bewaffneten Freiwilligenverband als Geburtshelfer der ersten deutschen Demokratie bis zur brutalen Soldateska, die mit massiver militärischer Gewalt einseitig gegen die politisch Linke vorgegangen sei. Besonders wirkmächtig erwies sich die These von Robert Waite, der die Freikorps auf Grundlage der zeitgenössischen Erinnerungsliteratur als Vorgänger des Nationalsozialismus beschrieb. [1] Obwohl sich Matthias Sprenger 2008 anhand der Freikorpsliteratur kritisch mit dieser Sichtweise auseinandergesetzt hat [2], taucht die Vorgänger-These selbst in neuesten Veröffentlichungen noch auf [3], obgleich sie empirisch nie überprüft wurde. Jan-Philipp Pomplun hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Forschungslücke zu füllen. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die 2020 an der TU Berlin eingereichte Dissertation des Autors, die 2022 den Friedrich-Ebert-Preis der Jenaer Forschungsstelle Weimarer Republik erhielt.
Pomplun möchte den Ursprung der Gewalt der Freikorps und deren Rolle bei der Genese des Nationalsozialismus anhand einer Untersuchung der sozialen Zusammensetzung kritisch betrachten. Ziel des Buches ist es, grundlegende Informationen über die Sozialstruktur der Freikorps zu liefern. Den Autor interessieren insbesondere die Berufsgruppen, das soziale Umfeld und die Mobilität, die Konfessions- und Generationszugehörigkeit, potenzielle Kampf- und Kriegserfahrungen sowie die grundlegende Gewaltbereitschaft der Freikorpsmitglieder.
Pomplun betreibt, wie er selbst schreibt, "keine klassische Militärgeschichte", sondern versucht, "unter Rückgriff auf militärhistorische Erkenntnisse sozialgeschichtliche Merkmale einer spezifischen Erscheinungsform paramilitärischer Gewalt" zu bestimmen; damit liefert er einen Beitrag zur Sozialgeschichte der Gewalt (22), die er in einer strengen Engfassung als etwas rein Physisches versteht. Als methodischer Zugang dient Pomplun die quantitative Analyse serieller Quellen. Dafür nutzt er Stammrollen von elf Freikorpsformationen, die allesamt aus dem süddeutschen Raum stammen, namentlich die Freikorps von Diebitsch, von Medem, Bayreuth, Hübner, Oberland, Würzburg, Passau, die Abteilungen Mauritius und Haas, das Badische Sturmbataillon sowie die Eiserne Schar Berthold. Diese Auswahl wird einerseits durch die Verfügbarkeit von Quellen und andererseits durch die Generalisierbarkeit der Ergebnisse begründet. Die Stammrollen liefern dem Autor Informationen über Namen, Dienstgrade, Geburtsdaten, Konfessionen, Familienstand, Berufe, Elternhaus sowie potenzielle Teilnahme am Ersten Weltkrieg. Annähernd 20.000 Freikorpsmitglieder konnten so biografisch erfasst werden. Aus dieser Masse an Einzelpersonen wurde eine repräsentative Stichprobe von 3183 Personen entnommen und analysiert.
Nach einem knappen Überblick über die Geschichte der Freikorps widmet sich Pomplun im Hauptteil seiner Studie der sozialen Zusammensetzung der Verbände. Durch die Auswertung der Stichproben kann der Autor anhand von festgelegten Kriterien ein detailliertes Sozialbild der jeweiligen Freikorps zeichnen. Pomplun kommt dabei zu überraschenden und sehr wichtigen neuen Erkenntnissen. Er kann zeigen, dass die untersuchten Freikorps im Gegensatz zur bisherigen Forschungsannahme keine Sammelbecken ehemaliger Offiziere waren, die im Kampf gegen die Arbeiterschaft standen. Vielmehr rekrutierte sich die Masse der Freikorpsmitglieder mit 62 Prozent aus der Arbeiterschaft selbst. Ehemalige Offiziere machten nur drei Prozent aus. Die Unter- und Mittelschicht der Bevölkerung war in den Freikorps am stärksten vertreten. Dies führt Pomplun vornehmlich auf entsprechende materielle Interessen in Zeiten größter wirtschaftlicher Anspannung zurück.
Im folgenden Kapitel der Arbeit wird auf Grundlage der Forschungsliteratur und einzelnen Quellenbelegen die Gewalterfahrung und das Gewalthandeln behandelt. Auf wenigen Seiten widmet sich Pomplun nochmals den Kriegserfahrungen und der Ausbildung der von ihm erfassten Freikorpsangehörigen, um anschließend überblicksartig die Kämpfe in Berlin und München 1919, im Ruhrgebiet 1920, im Baltikum 1919 und im deutsch-polnischen Grenzgebiet 1919-1921 in den Blick zu nehmen. Das Kapitel endet mit einer ebenso kurzen wie rechtshistorischen Bewertung, die die Legalität der Freikorpseinsätze in den Blick nimmt. Anhand weniger Beispiele schlussfolgert der Autor, dass die eingesetzten Freikorps oftmals ihre Kompetenzen überschritten und rechtswidrig handelten. In diesem Abschnitt des Buches gelingt es Pomplun nicht, die bedeutenden Ergebnisse aus dem vorherigen Kapitel gewinnbringend einzubringen. Er liefert keine neuen Erkenntnisse und kann die bisherige Forschung allenfalls bestätigen.
Der letzte Teil der Studie befasst sich mit der Frage nach den Kontinuitäten zum Nationalsozialismus. Pomplun stellt fest, dass 24 Prozent der Personen aus seiner Stichprobe in die NSDAP eintraten. In der Sturmabteilung waren lediglich zwei Prozent der Ehemaligen aktiv und ein Prozent trat der Schutzstaffel bei. Dies entspricht dem Schnitt in der männlichen Gesamtbevölkerung im Deutschen Reich. Eine Überpräsenz oder erhöhte Affinität der ehemaligen Freikorpsmitglieder zum Nationalsozialismus lässt sich, zumindest für die hier untersuchten elf süddeutschen Verbände, nicht nachweisen. Somit bestätigt Pomplun die Ansicht jener Forscher, die keine großen Kontinuitäten zwischen Freikorps und Nationalsozialismus sehen und dafür plädieren, die Weimarer Republik nicht von ihrem Ende her zu denken.
Die Stärke und der besondere Wert der vorliegenden Arbeit liegt eindeutig in der Sozialstudie. Pomplun bricht auf breiter empirischer Grundlage bisher geltende Narrative auf und revidiert durch seine Ergebnisse alte Gewissheiten. Die Begrenzung auf süddeutsche Stammrollen ist mit Blick auf die fragmentarische Quellenlage zwar einleuchtend, überzeugt aber hinsichtlich der Generalisierung auf ganz Deutschland nicht. Diese Möglichkeit sieht der Autor "aufgrund von Plausibilitätsbetrachtungen und indirekten Vergleichen" (26) als gegeben an, führt dies jedoch nur unzureichend weiter aus. Die Ergebnisse der von Pomplun durchgeführten Stichprobenauswertung sind allenfalls repräsentativ für die elf betrachteten Freikorps. Sie können darüber hinaus aber Anhaltspunkte liefern und zur weiteren Forschung anregen.
Leider nutzt Pomplun die Ergebnisse seiner Sozialstudie in den nachfolgenden Teilen des Buches nicht. Die Bewertung und Einordnung der sozialen Zusammensetzung in Bezug auf die Gewalt- und Ereignisgeschichte der Weimarer Republik scheint er dem Leser überlassen zu wollen. Spannende Fragen, wie etwa nach der Bedeutung des hohen Arbeiteranteils für das Gewalthandeln der Freikorpsmitglieder, bleiben daher offen. Störend wirkt das Nebeneinander von "passim" und häufig fehlenden Seitenangaben in den Fußnoten. Im Vergleich zu den herausragenden Ergebnissen der Sozialstudie wiegt die hier angebrachte Kritik jedoch weniger schwer. Die von Pomplun offengelegte soziale Zusammensetzung der Freikorps muss die zukünftige Forschung unbedingt zur Kenntnis nehmen, denn dadurch ergeben sich neue Ansätze zur Erforschung der Gewaltgeschichte in den ersten Jahren der Weimarer Republik.
Anmerkungen:
[1] Robert G. Waite: Vanguard of Nazism. The Free Corps Movement in Postwar Germany 1918-1923, Cambridge 1952.
[2] Matthias Sprenger: Landsknechte auf dem Weg ins Dritte Reich? Zu Genese und Wandel des Freikorpsmythos, Paderborn 2008.
[3] Norbert Kozicki: Friedrich Eberts Regierungstruppen nach der Novemberrevolution. Die Geschichte des Freikorps Aulock, der 3. Marine-Brigade Loewenfeld und des Freikorps Epp. Beiträge zum Ursprung des deutschen Faschismus, Berlin 2023.
Pierre Köckert