Rezension über:

Scarlett K. Kingsley / Giustina Monti / Tim Rood (eds.): The Authoritative Historian. Tradition and Innovation in Ancient Historiography, Cambridge: Cambridge University Press 2022, XVI + 475 S., ISBN 978-1-009-15945-6, GBP 105,00
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Rezension von:
Jack W.G. Schropp
Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Jack W.G. Schropp: Rezension von: Scarlett K. Kingsley / Giustina Monti / Tim Rood (eds.): The Authoritative Historian. Tradition and Innovation in Ancient Historiography, Cambridge: Cambridge University Press 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/38083.html


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Scarlett K. Kingsley / Giustina Monti / Tim Rood (eds.): The Authoritative Historian

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Der zu rezensierende Sammelband ist dem Doyen der antiken Historiographie John Marincola anlässlich seines 1997 erschienenen und wegweisenden Buches Authority and Tradition in Ancient Historiography gewidmet und stellt das Ergebnis einer im April 2019 abgehaltenen Tagung in der pugliesischen Stadt Martina Franca dar. Auf die Einleitung folgen insgesamt 19 Beiträge, die sich auf fünf Blöcke verteilen, deren gelungene thematische Zusammenstellung dazu einlädt, anstelle einer selektiven Einzelbesprechung im Nachfolgenden eine blockweise Besprechung vorzunehmen.

Der erste Themenblock widmet sich den historiographischen Problemen der Fiktionalität von historischen Werken und der Darstellung von mythischen und historischen Zeitebenen (19-98). In Anlehnung an einen berühmten Aufsatz von T. P. Wiseman [1] eröffnet Michael A. Flower den Reigen mit der Aufdeckung von sieben Typen der Fiktion bei den griechischen Historiographen Herodot, Thukydides und Xenophon. Dazu werden von ihm erstens das Lückenfüllen durch kreative Ausarbeitung, zweitens die Unterdrückung relevanter Materialien, drittens die Erfindung von Reden und Unterhaltungen, viertens das Verrücken von Ereignissen zu Gunsten der Dramaturgie, fünftens die überzogene Einforderung methodischer Arbeitsweisen, sechstens die Zuschreibung von Handlungsmotiven und siebtens die Auffindung von wiederkehrenden Mustern gezählt. Die Absicht hinter dem Einsatz dieser literarischen Techniken sei es gewesen, den Lesern eine tieferliegende Wahrheit zu präsentieren, ohne dabei altruistisch wirken zu wollen, da auch das Dreigespann der klassischen Historiographie von Ruhm, Wohlstand und Rivalitäten angetrieben worden sei (40). Nino Luraghi blickt durch die Linse der Märchenforschung auf drei Fragmente des im fünften Jahrhundert v.Chr. aktiven Historiker Charon von Lampsakos (BNJ 262 fr. 1, 7a-b und 17). Minutiös schält er heraus, wie das folkloristische Motiv des 'Zaubertanzes' im Fragment zum Feldzug der Bisaltai gegen Kardia verwendet wurde (47); die Motive des 'Doppelgängers' und des 'Grenzlaufes' finden sich hingegen in den fragmentarischen Erzählungen zur Gründung von Lampsakos und zur Grenzstreitbeilegung zwischen derselben Polis und Parion (55, 57). Eine klare Absage an die Verwendung der analytischen Begriffe spatium mythicum und historicum erteilt Tim Rood der Herodotforschung. Ihren wissenschaftsgeschichtlichen Gebrauch rekapitulierend hält er die in der Diskussion herangezogenen Stellen im Pröom (1.1-5) und im dritten Buch (3.122.2) für ungeeignet, um die Trennlinie zwischen Mythos und Historie aufrechtzuerhalten, da sie Herodots mythologisierenden Umgang mit rezenten Ereignissen überblenden (75f.). Radikal in seiner Methodik ist A. J. Woodman - wie er selbst einräumt (87) -, der ältere Übersetzungen eines Ausschnittes in der praefatio des livianischen Großwerkes verwirft und begründet eine neue vorlegt (94).

Im zweiten Block steht der Vater der antiken Geschichtsschreibung im Zentrum, dessen Strategien zur Formung seiner historiographischen Autorität ergründet werden (101-176). Ausgehend von persönlichen Erfahrungen mit Touristenführern erhofft sich Scott Scullion, zum besseren Verständnis von kontroversen Stellen im herodoetischen Werk beizutragen. Dafür interpretiert er Passagen mit Autopsie-Gehalt als virtuelle Touren, mit denen Herodot die Vorstellungskraft seiner Leser stimulieren wollte (vgl. 104, 118). In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag von Carolyn Dewald, die sich mit Stellen in den Historien beschäftigt, welche den Leser oft ratlos machen würden. Diese seien nicht zwangsläufig ironisch, sondern würden 'interpretative Unklarheiten' darstellen, die einen geschehensnahen Eindruck von der Verwirrung der Akteure geben sollen (vgl. 137). Dem Zufall bei Herodot wendet sich Richard Rutherford zu, welchen er gleich zu Beginn als die Kombination von Ereignissen in Raum und Zeit definiert, deren Unverbundenheit sich durch eine gemeinsame Betrachtung auflöst (141). Dieser Definition wird dann auch Rechnung getragen, wenn festgestellt wird, dass Herodot ständig auf der Suche nach Ähnlichkeiten gewesen sei, die er durch Raum und Zeit hinweg auf unterschiedliche Weise zu verbinden versuchte (147f.). Analogien, Homonymitäten oder Synchronismen im Geschichtswerk seien darum keine Zufälle, sondern mitunter die Folge von Plausibilitäten, wobei die auktoriale Gestaltungskraft nicht außer Acht gelassen werden dürfe (vgl. 154f.). Den mehrheitlich negativen Urteilen von 'Non-Greeks' über 'Griechen' bei Herodot geht Deborah Boedeker nach. Sie führt mehrere Beispiele an, wie die Verwunderung über ihr Essverhalten, die Befremdlichkeit gegenüber Agorai, die Abschätzigkeit gegenüber der Aufstellung von Statuten, Tempel oder Altären für die Götter, die Geringschätzung der Kriegsführung mit Hopliten sowie die Vorurteile gegenüber der politischen und militärischen Uneinigkeit und Bestechlichkeit der Poleis. Der Zweck solcher interkulturellen Aussagen sei für das Publikum ein doppelter gewesen: So sei es über die Außenwahrnehmung der 'Griechen' sowie über die Weltsicht der 'Non-Greeks' informiert worden (176).

Formen der kollektiven und individuellen Autorität stehen im Mittelpunkt des dritten Themenblockes (179-258). Lucia Athanassaki resümiert über Pindars Chorlyrik, dass er ein 'team player' gewesen sei, der sich der kollaborativen Natur seiner Gattung bewusst war und dementsprechend Zusammenarbeiten bei Aufführungen besonders wertgeschätzt habe. In diesem Zusammenhang schlägt sie vor, die Notiz in den Scholien zu den Olympischen Oden über die Befähigung Pindars als Chorlehrer umzudeuten (Schol. ad Pind. Ol. 6.148a). Demnach sei die Einsetzung eines gewissen Ainaes als χοροδιδάσκαλος durch Pindar nicht wegen seiner eigenen dünnen Stimme (ἰσχνόφωνος) [2] erfolgt, sondern die hohe Nachfrage nach seiner Person im panhellenischen Raum habe eine Weiterleitung an lokale Chorlehrer nötig gemacht (185f.). Bei K. Scarlett Kingsley steht erneut Herodot im Fokus, jedoch wird nun nach der rhetorischen Funktion der zweiten Person und des Generalpronomens 'man' gefragt. Beides sei vom Halikarnasser benutzt worden, um beim Leser ein Gefühl der unmittelbaren Nähe zum Erzählten und der Teilhabe am Geschehen zu erzeugen. Diese Form der narrativen Immersion trete besonders bei geographischen Beschreibungen hervor, wie bei der Begegnung zwischen Aristagoras und Kleomenes I. unmittelbar nach Ausbruch des Ionischen Aufstandes. Der milesische Tyrann habe dem spartanischen König durch die Verwendung der zweiten Person und anhand einer Bronzetafel des ganzen Erdkreises mit allen Meeren und Flüssen erklärt, welche zu erobernden Territorien sich auf der Königsstraße von Sardes nach Susa befinden. Im Anschluss hat Herodot mit dem Generalpronomen 'man' die Streckenabschnitte und Distanzen derselben Straße beschrieben (vgl. 220-222 mit Hdt. 5.49-54). Mit einer ähnlichen Fragestellung, allerdings in einem anderen zeitlichen und kulturellen Kontext setzt sich Harriet I. Flower in ihrem Beitrag auseinander. Sie untersucht die Anwendung der ersten Person Singular in der römischen Elite des zweiten und ersten Jahrhunderts v.Chr., wofür sie eine Bandbreite an unterschiedlichen Quellengattungen heranzieht. Interessanterweise stellt sie für die letzten drei Dekaden des zweiten Jahrhunderts v.Chr. eine Varietät in der Verwendung abseits der traditionellen Milieus wie der Politik oder der Wirtschaft fest, welche sie im engen Zusammenhang mit den innenpolitischen Unsicherheiten dieser Jahrzehnte sieht (235, 240). Das Eigenlob bei gleichzeitiger Neidvermeidung wird von Frances B. Titchener in den Schriften Plutarchs näher betrachtet. Diese spezielle Art der Selbstdarstellung habe Plutarch dafür genutzt, um sich als vertrauenswürdiger Ratgeber vor allem gegenüber Menemachos und Euphanes zu präsentieren, den jeweiligen Adressaten der gegenwartspolitischen Schriften Praecepta gerendae reipublicae und An seni respublica gerenda sit (252f., 258).

Das Thema des vierten Blockes ist die Transformation von Gattungen (261-312). Ausgehend von der Mytilenischen Debatte im dritten Buch des Peloponnesischen Krieges konstatiert Paul Cartledge in einem essayistischen Stil, dass Thukydides nur von zwischenstaatlichen 'key moments of decision' Reden geschrieben habe (266). Diese würden ihn weniger als Historiker, denn als politischen Philosophen ausweisen, worin aber die 'enduring quality' der Reden liege (269). Kurt A. Raaflaub wiederum zeigt, wie Caesar in den commentarii über den Gallischen Krieg ein breites Repertoire an literarischen Techniken einsetzte, um seine jährlichen Kriegsberichte (litterae) als Feldherr durch historiographische Elemente zu erweiterten. Dennoch fehlt es den commentarii an Eigenheiten der Geschichtsschreibung wie einem Proöm, einer methodischen Erklärung oder dem Wahrheitsanspruch, wodurch sie eine hybride Form angenommen hätten (290f.). Gleichsam nach historiographischen Techniken sucht Ewen Bowie in Philostrats Vitae Sophistarum, der darin etwa Augenzeugenberichte verarbeitet, literarische Quellen ausgewertet oder sich der Fachsprache (z.B. ἑρμηνεύειν/erklären, διαλέγεσθαι/besprechen oder ἀναγράφειν/aufzeichnen) bedient hat. Damit habe Philostrat seine Autorität als ein verlässlicher Historiker mit quasi-herodoteischen Zügen sichergestellt (293, 311).

Um Innovationen innerhalb von Traditionen geht es im letzten Themenblock (315-391). Im Detail überzeugend führt Giustina Monti aus, wie Polybios in seinem Werk 'historiographische Neologismen' einführt. Dabei unterscheidet sie zwischen Phrasen und Lexemen und teilte diese in drei Kategorien ein: In die erste Kategorie fallen Ausdrücke, die im Zusammenhang mit der aufrichtigen Arbeit eines Historikers stehen; in die zweite Kategorie gehören negative Charakterisierungen von Konkurrenten, die sich etwa keine Mühe machen würden (ἀφιλόπονος) oder achtlos seien (ἀσκεψία); der letzten Kategorie werden Bezeichnungen zugeordnet, die die Stilistik betreffen (vgl. 333f.). Überraschend schroff in seiner Bewertung der literarischen Überlieferung des Zeitraums zwischen 45 und 44 v.Chr. ist Mark Toher. Mit Ausnahme der Zeitgenossen Cicero und Nikolaos von Damaskus erachtet er die historische Verlässlichkeit der späteren Geschichtsschreibung als gering, was insbesondere für Appian gelte, der der fantasievollen Erfindung bezichtigt wird, ohne jedoch ernsthaft das Quellenproblem mit Livius und Pollio anzugehen (vgl. 350-352). Zu den wohl lesenswertesten Beiträgen im ganzen Band gehören die letzten beiden Aufsätze: Bei dem ersten handelt es sich um eine methodisch stimmige Analyse von Rhiannon Ash zur taciteischen Darstellung des Brandes von Rom unter Nero. Die Schuld an diesem sechs Tage in der Stadt wütenden Feuer, das weitere Ausbrüche verursachen und von 14 Stadtteilen drei völlig und sieben fast zur Gänze vernichten sollte, habe Tacitus offengelassen, um sich von Beschreibungen anderer Autoren abzusetzen, die vor ihm Stadtbrände beschrieben haben oder in Nero den Verantwortlichen sahen (370). Um Nero zu entlasten, seien etwa das Aufkommen von Winden, die engen und verwinkelten Straßen sowie die unregelmäßigen Häuserreihen erwähnt worden; ferner wurde von Tacitus angeführt, dass der Kaiser sich zur Zeit des ersten Ausbruches in Antium aufgehalten habe und dessen Besingung des Untergangs der Stadt ein Gerücht sei, welches seine Hilfe gegenüber der Stadtbevölkerung diskreditiert hätte (vgl. Tac. ann. 15.38-39). Gleichfalls hochkarätig ist der den Band beschließende Beitrag The Authority to Be Untraditional von Christopher Pelling. In souveräner Manier arbeitet er heraus, warum die Werke von Thukydides, Xenophon, Polybios, Tacitus oder Plutarch historiographische 'gamechanger' waren: Jedem gelang es sich von seinen Vorgängern abzuheben, indem er sich in deren Traditionen stellte, zugleich aber die Dinge 'a little different' behandelte (375).

Um das finale Urteil kurz zu halten: Die Lektüre der einzelnen Beiträge ist ein Gewinn und gereicht dem Gewürdigten sicherlich zu Ehren, womit die Anschaffung des Bandes ungeachtet des stolzen Preises empfohlen werden kann.


Anmerkungen:

[1] T. P. Wiseman: Lying Historians: Seven Types of Mendacity, in: Lies and Fiction in the Ancient World, ed. by C. Gill / T.P. Wiseman, Exeter 1993, 122-146.

[2] Von K. Bartol: PINDAR ΙΣΧΝΟΦΩΝΟΣ (SCHOL. IN PI. O. 6.88), The Cambridge Classical Journal 63, (2017), 1-10, als Stottern gedeutet.

Jack W.G. Schropp