Silvia Böcking / Felix Böcking (Hgg.): Die Tagebücher der Hildegard von Erffa, 1889-1900. Ein preußisches adliges Frauenleben im späten 19. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2023, 599 S., ISBN 978-3-11-122046-8, EUR 109,95
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Die Autorin der Tagebücher, Hildegard von Erffa (1874-1945), stammt aus einem freiherrlichen Adelsgeschlecht, das in Thüringen und Sachsen im Dienst der Wettiner groß geworden war. Eine familienbiographische Untersuchung vorwiegend des fränkisch-thüringischen Zweiges des Hauses Erffa aus der Perspektive der neueren Adelsforschung hat 2010 Anne von Kamp vorgelegt und dafür die Bestände des Archivs in Ahorn bei Coburg, dem heutigen Stammsitz, ausgewertet. [1] Dazu stellen die hier zu besprechenden Tagebücher, entstanden in preußischem Umfeld, eine willkommene Ergänzung dar.
Hildegard von Erffa wuchs auf dem väterlichen Gut Wernburg auf, das seit dem Wiener Kongress zur preußischen Provinz Sachsen gehörte. Ihre Eintragungen reichen von der Konfirmation im Jahr 1889 bis zu ihrer Heirat im Jahr 1900. Sie wurden teils tageweise vorgenommen, teils wurden Passagen später zu abgerundeten Darstellungen überarbeitet oder nachgetragen, so die Schilderung einer Romreise im Jahr 1899, für die Briefe der Reisenden herangezogen wurden (463). Ein weiteres Tagebuch, dessen Eintragungen von 1903 bis 1910 dem Aufwachsen der Kinder gelten, ist nicht Teil der Edition.
Die Tagebücher befinden sich heute im Besitz von Katharina Ebrecht in Reutlingen, einer Urenkelin der Autorin. Sie bestehen aus sechs Teilen, die in der Edition meist je 80-90 Druckseiten umfassen und die im Inhaltsverzeichnis als "Bände" bezeichnet werden. Über ihre physische Beschaffenheit erfährt man leider nichts weiter. Eher beiläufig wird einmal mitgeteilt, dass sie handschriftlich abgefasst wurden (VII).
Der transkribierte Text wird unter Beibehaltung von Rechtschreibung und Grammatik der Vorlage dargeboten. Sehr hilfreich sind die editorischen Ergänzungen: In einer ausführlichen Einleitung skizziert Felix Böcking den Entstehungskontext und geht auf die wichtigsten behandelten Themen und Vorgänge ein. Im Text bieten Kolumnentitel Orientierung, die die Bandzahl und die Jahreszahl des Eintrags angeben. Personen werden erläutert und zum leichteren Textverständnis dienen Sachanmerkungen; so erfährt man zum Beispiel, dass der Ortsname Mahren eine umgangssprachliche Bezeichnung des Dorfes Ahorn bei Coburg ist (356). Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Sach-, Orts- und Personenregister (hier fehlt Ludwig Windthorst, erwähnt 75, 98, 278), beschließen den Band. Er ist mit Abbildungen von Mitgliedern der Familie versehen, sein Einband ist ansprechend, ebenso das Druckbild.
Die Edition präsentiert eine einschlägige Quelle für die Geschichte des Adels in der Zeit der "klassischen Moderne", wie die fünf Jahrzehnte zwischen 1880 und 1930 von der Forschung bezeichnet werden. [2] Dies ist eine Zeitspanne, in der der Adel sich dem tiefgreifenden Wandel der Lebensverhältnisse der nachständischen Gesellschaft, der Industrieentwicklung, Urbanisierung und Politisierung anzupassen suchte. Es ist unumstritten, dass er seinen Status als distinkte soziale Gruppe in Preußen nicht zuletzt dank der ökonomischen und politischen Grundlagen bewahren konnte, die ihm von der Monarchie gewährt wurden. Dazu gehörte einerseits sein Grundbesitz, konsolidiert durch die staatliche Agrarpolitik, und andererseits sein Einfluss im preußischen Abgeordnetenhaus, in der Regierung, im Offizierscorps und in der ländlichen Kommunalverwaltung.
Die Familie der Tagebuchschreiberin entspricht diesem idealtypischen Erscheinungsbild des preußischen Landadels. Wie man der Einleitung entnehmen kann, studierte der Vater Hermann von Erffa (1845-1912) Jura an der von Preußen 1819 gegründeten Universität in Bonn, wo er wie viele preußische Adelige Mitglied im exklusiven Corps Borussia war. Das qualifizierte ihn für den preußischen Verwaltungsdienst, den er später als ein Amtsvorsteher ausübte. In einem Zweitstudium an der Landwirtschaftlichen Akademie Hohenheim erwarb er die nötigen Kenntnisse, um seine zwei Güter erfolgreich zu bewirtschaften.
Als Mitglied der deutschkonservativen Partei wurde er in das Provinzialparlament, dann in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt, dessen Präsident er schließlich wurde. Er war standesgemäß verheiratet, ebenso hielten es später eine zwei Töchter und zwei seiner drei Söhne. Der Dritte kam 1904 mit 24 Jahren in Deutsch-Südwest Afrika als Mitglied der deutschen Schutztruppe im Kampf gegen die aufständischen Hereros ums Leben (2-4).
Das bei dem preußischen Adel obwaltende deutlich ländlich-kirchliche und politisch konservative Milieu spiegelt sich auch in den Tagebüchern. Für sie gilt natürlich der Vorbehalt, dass Eintragungen nach damals propagierten Idealen und Vorbildern stilisiert sein können, ohne dass dies immer offensichtlich wäre.
Die "Aufzeichnungen meiner Mädchenzeit" (565) dienen - so die Autorin - ausschließlich persönlichen Zwecken und erfüllen zwei damals gängige Funktionen eines Tagebuchs [3]: Als Alltags- und Gegenwartchronik sollen sie später die eigene Kindheit vergegenwärtigen. Und als sehr persönliche Aufzeichnungen, die zu Reflexion und Selbsterkenntnis verhelfen sollen, gehören sie zum Typus des journal intime. [4] Als Nebeneffekt soll außerdem die eigenhändige Niederschrift Handschrift und Stil verbessern (31).
Ihren besonderen Wert gewinnen die Tagebücher dadurch, dass sie gelebte Alltagspraxis widerspiegeln. Der Einleitung zufolge lassen sich als wichtigste, wiederholt berührte Themen, benennen: Das Spannungsverhältnis von ländlichem Leben auf Gut Wernburg und städtischem Leben in Berlin, wobei der Vorzug dem Landleben gilt. Die Monarchie, wo alle Sympathien dem Kaiser gelten, die auch nicht durch die Entlassung des als Held verehrten Bismarcks getrübt werden können. Die preußische Armee, die uneingeschränkt bewundert wird. Die Suche nach einem Ehepartner, der bestimmten Statuskriterien entsprechend muss, nämlich vor allem evangelische Konfession, Anciennität und Ansehen der Familie sowie nicht zuletzt befriedigende Besitz- und Einkommensverhältnisse. Mit Hilfe dieser Kriterien lässt sich der Kandidat in der vielschichtigen Adelsgesellschaft dort verorten, wo auch die eigene Familie ihren Platz hat (21). Schließlich kommen auch die religiösen Verhältnisse im Land wiederholt zur Sprache, deren Kommentierungen eine deutliche Abneigung gegen den Katholizismus und das Judentum erkennen lassen.
Dies sind nur einige der vielfältigen Themen, deren ganze Fülle sich dank der Sachbetreffe im Register dem Leser leicht erschließt. Hier stößt man auch auf unerwartete Einträge wie Frauenfrage, Geldsäcke, Heilmagnetiseur, Schülerstrike. Die Tagebücher erweisen sich so als eine ergiebige Quelle für das Leben des preußischen landbesitzenden Adels im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, wie es von einer unmittelbar Beteiligten wahrgenommen und mitgestaltet wurde. Die familiären, gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten und Ereignisse werden - oft mit sehr dezidiertem Urteil - geschildert und verleihen allem dem eine Anschauung, was als Kern adligen Selbstbewusstseins und Handelns bezeichnet wird: Familie, Stand, Erziehung, Geselligkeit und Mentalität. [5]
Anmerkungen:
[1] Anne von Kamp: Adelsleben im bürgerlichen Zeitalter. Die Freiherren von Erffa im 19. und frühen 20. Jahrhundert (=Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte; IX. 55), Würzburg 2010.
[2] Monika Wienfort: Adlige Handlungsspielräume und neue Adelstypen in der "Klassischen Moderne" (1880- 1930), in: Geschichte und Gesellschaft, 33 (2007), 416-438, hier 416.
[3] Sibylle Schönborn: Tagebuch (2019), in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, hg. von Friedrich Jaeger (https://doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_362297; 29.8.2024).
[4] Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart, Formen, Entwicklung, Darmstadt 1990, 13.
[5] Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, 58.
Franz Bosbach