Till van Rahden: Vielheit. Jüdische Geschichte und die Ambivalenzen des Universalismus, Hamburg: Hamburger Edition 2022, 223 S., ISBN 978-3-86854-358-2, EUR 30,00
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Der Historiker Till van Rahden beschäftigte sich während seiner akademischen Laufbahn mit der Geschichte des Bürgertums und der jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Nun hat er ein Buch vorgelegt, mit dem er auf Basis seiner bisherigen Forschung in die Debatte über die Grundlagen einer pluralen Gesellschaft eingreifen möchte.
Zu Recht könnte man fragen, ob es noch ein Buch über Universalismus und Partikularismus geben muss. Insbesondere wenn es sich wie in diesem Fall vor allem um eine Zusammenstellung bereits publizierter Texte handelt. Van Rahden versucht allerdings in fünf Kapiteln, sein Konzept von Vielheit plausibel zu machen.
Schon der Titel von Till van Rahdens Buch ist ein Statement: In einer Zeit in der sich Begriffe wie Diversity, Ambiguität oder Vielfältigkeit einer öffentlichen und akademischen Beliebtheit erfreuen, schlägt er einen älteren Begriff zur aktuellen Beschreibung von Verschiedenheit vor. Vielheit soll, so van Rahden, durch seine längere historische Existenz passender sein. Da Vielheit nach van Rahden bis ins frühe 20. Jahrhundert gängig war, um Verschiedenheit auszudrücken, bevor dieser Begriff dann durch Vielfalt verdrängt wurde, besitze er eine längere Traditionslinie. Außerdem verweise Vielheit auf Konzepte wie Pluralität, Vielzahl und Mannigfaltigkeit. Vielheit wurde aber wohl als Begriff ersetzt, da er zunehmend als gegenläufig zu Einheit wahrgenommen wurde. Insbesondere im Kontext der Erfindungen von Nationen führte es dazu, dass Vielheit eher als Bedrohung, denn als Bereicherung wahrgenommen wurde. In der Folge setzte sich der Begriff der Vielfalt durch.
Um sein Ziel der Stärkung des Begriffes Vielheit zu erreichen, betrachtet van Rahden bisher genutzte Konzepte, um die Beziehung zwischen Gruppen in einer Gesellschaft zu charakterisieren. Am Beispiel des Judentums heißt dies konkret: Assimilation, Akkulturation und situative Ethnizität.
Van Rahden rekonstruiert die Debatte um Assimilation und Akkulturation in den historischen Wissenschaften und den Jüdischen Studien. Er kritisiert dabei vor allem, dass das dahinterstehende Verständnis einer Beziehung zwischen Mehrheit und Minderheit zu kurz greift, insbesondere wenn es nur um den Grad der Anpassung an eine vermeintliche 'Mehrheit' geht. Van Rahden bringt seine Perspektive auf den Punkt, indem er schreibt: "In der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts gab es keine universale, alles dominierende Mehrheitskultur, sondern nur eine Vielzahl von sich ständig verändernden partikularen Gemeinschaftsvorstellungen, die sich wechselseitig beeinflussten". (67)
Nach der Rekonstruktion der Verwendung von Stamm und Volk in der Debatte um (deutschen) Nationalismus um 1900, die zeigt, welche pluralistischen Ansätze es beim Verständnis von Nation gab, schlägt van Rahden den Begriff situative Ethnizität vor, um die Lage von Jüdinnen und Juden in Deutschland zu beschreiben. Das Konzept der situativen Ethnizität wurde u.a. von Philipp Lenhard in seiner Studie über die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland zwischen 1782 und 1848 aufgegriffen. [1]
Mit situativer Ethnizität beschreibt van Rahden die soziale Rückgebundenheit von Ethnizität, die er allerdings nicht als Ersatzbegriff für Rasse begreift, sondern als Entsprechungsbegriff für Nation. Wie Nation lässt sich eine ethnische Gemeinschaft als gedachte Gemeinschaft im Sinne Benedict Andersons begreifen, die im Unterschied zur Nation jedoch keinen Nationalstaat anstrebt. Fixpunkte einer ethnischen Gemeinschaft sind die Vorstellungen einer gemeinsamen Herkunft und Kultur. Außerdem gehört dazu die Besonderheit, dass die von van Rahden beschriebene Ethnizität, die als kulturelle Tradition der eigenen Gruppe verstandenen Konzepte, mit Elementen der Kultur der Umwelt verbindet. Deshalb spricht er auch davon, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland eine jüdische Ethnizität entstand. Diese jüdische Ethnizität verweise aber nicht auf einen "unveränderbaren Kern von Kultur, Tradition und Religion" (102), sondern konstituiert eine Sozialform, die Loyalitäten gegenüber anderen Sozialformationen nicht ausschließt. Man könnte sie also - in den Worten des Rezensenten - als kulturelle Hybridität verstehen. Ob diese Art der situativen Ethnizität verschwand oder durch die Nationalsozialisten vernichtet wurde, ist bisher noch nicht untersucht worden.
So interessant die historischen Studien sind, so hart ist auch der Bruch zum fünften und letzten Kapitel. Hier biegt van Rahden etwas unerwartet in Richtung Wissenschaftsgeschichte ab. Es steht außer Frage, dass seine Ausführungen über die Debatte unter Historikerinnen und Historikern zu den Begriffen Assimilation und Akkulturation wichtig und relevant sind. Die Rekonstruktion dieser Debatte schlägt außerdem den Bogen in die Gegenwart. Dennoch ist es irritierend, wieso van Rahden diesen Bogen schlägt, insbesondere ohne ihn anzukündigen oder zu erklären, wie er mit dem Rest des Buches zusammenhängt.
Ungeachtet dieser Kritik schafft es Till van Rahden mit seinem Buch ganz hervorragend, die Vielheit der jüdischen Erfahrung herauszuarbeiten zugleich und gleichzeitig - obwohl die einzelnen Teile schon publiziert waren - einen neuen, übergeordneten Sinnzusammenhang aufzubauen. Seine historischen Studien zeigen, dass die vergangenen Debatten und Positionen bezüglich der Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht nur vielfältiger waren, als wir heute denken, sondern vor allem auch Antworten auf gegenwärtige Frag bereitstellen. Van Rahden möchte die Idee des Universalismus nicht nutzen, um Menschen und soziale Gruppen aus der Gesellschaft auszuschließen und die Ideen und Praktiken innerhalb der Gesellschaft zu hierarchisieren. Vielmehr geht es ihm darum, eine gesellschaftliche Reflexion unserer "normativen Gewissheiten" (17) der Gegenwart zu ermöglichen.
Insgesamt gesehen liegt ein politisches Sachbuch vor, wie es sein sollte; in diesem Fall historisch ausgerichtet und mit der Möglichkeit aus vergangenen Konzepten die Gegenwart neu zu denken, ohne paternalisierend vorzuschreiben, was nun zu tun sei. Gleichzeitig bringt van Rahden einen alt-neuen Begriff in die historische Debatte ein, um auch die Vergangenheit besser in ihrer Komplexität zu verstehen. Dass das Buch auf bereits publizierten Texten basiert, ist kein Makel, sondern ein Vorteil, da der Autor seine alten Ideen und Forschungen überdacht hat und dann zu einem neuen Ganzen zusammengefügt hat. Es zu rezipieren, wird für die Forschung und die politische Öffentlichkeit von Nutzen sein.
Anmerkung:
[1] Philipp Lenhard: Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782-1848, Göttingen 2014.
Sebastian Venske