Mark Tilse: Transnationalism in the Prussian East. From National Conflict to Synthesis, 1871-1914, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2011, XIII + 276 S., ISBN 978-0-230-28416-6, GBP 62,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der britische Historiker Mark Tilse betritt ein Feld, das in den vergangenen Jahren bereits durch eine Reihe von empirischen Arbeit gut bestellt worden ist: das Zusammenleben von Polen und Deutschen in den Provinzen Posen und Westpreußen. In seiner an der University of London eingereichten Dissertation erhebt Tilse den Anspruch, mit dem gegenwärtig breit diskutierten Ansatz der Transnationalen Geschichte weitergehende Einsichten vermitteln zu können. In seiner Einleitung identifiziert er als bisher gängige Betrachtungsweisen der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte "Konflikt", "Kooperation", "Austausch" und "Assimilation", um diesen als neues Paradigma die "Synthese" gegenüberzustellen. Diese sei als Prozess zu sehen "by which the combination of contradictory phenomena produces something qualitatively new" (3). Die neu entstandenen transnationalen Mentalitäten und Praktiken seien somit nicht abgekoppelt von Konflikten und Nationalismen, sondern stünden zu diesen in vielfältiger Abhängigkeit. Damit verfolgt Tilse einen Ansatz der Transnationalen Geschichte, der weniger von einem normativen anationalen Impetus lebt, sondern analysierend "social phenomena that extend across national borders" (4) in den Blick nimmt.
Was aber waren im "preußischen Osten" überhaupt nationale Grenzen? Im ersten Teil des Buches erkundet Tilse die "Logik des Nationalismus" in Posen und Westpreußen, für die er zum einen die Entwicklung der amtlichen Statistik, zum anderen die Kulturpolitik in Bezug auf Hochschulen, Büchereien und Theater anführt. Preußisch-deutsche Statistiker erkannten, anknüpfend an eine im Verlaufe des 19. Jahrhunderts immer stärker an Einfluss gewinnende "objektive" Definition von Nation, der Sprache zentrale Bedeutung für die nationale Zugehörigkeit zu. Die Einwohner Posens und Westpreußens ließen sich so binär in Deutsche und Polen sortieren, wobei sich in dieses Raster auch zwei- oder mehrsprachige Personen zu fügen hatten. Auf der Basis vermeintlich exakter Zahlen entwickelte sich alsbald eine politische Auseinandersetzung um die "demographische Frage" im Osten, die vor allem um die höhere Geburtenrate und die zunehmende Ausbildung einer gesellschaftlichen Mittelschicht bei den Polen kreiste. Eine Reaktion darauf war die sogenannte Hebungspolitik, die die preußischen Provinzen im Osten mit mehr deutschen Bildungs- und Kultureinrichtungen versorgen sollte. Tilse verweist darauf, dass die Effekte der Hebungspolitik längst nicht so eindeutig waren wie lange Zeit angenommen: Polnische Studierende besuchten, wenn auch nicht in großer Zahl, die Königliche Akademie in Posen und die Technische Hochschule in Danzig, deutsche Büchereien hatten polnische Leser in ihren Reihen, und Deutsche und Polen vergnügten sich abends in denselben Theaterstücken.
Waren dies schon transnationale Praktiken? Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist zumindest die Zweisprachigkeit, die Tilse im zweiten Teil seines Buches unter der Überschrift "Kulturen der Transnationalität" ausführlicher erörtert. Die preußische Schulpolitik im Osten, die bislang vorwiegend unter dem Gesichtspunkt von Germanisierungsbestrebungen beschrieben worden ist, stellt sich dabei in ihren Ergebnissen eher paradox dar: Sie förderte weniger die Assimilation polnischsprachiger Kinder als vielmehr eine ausgeprägte Zweisprachigkeit, die dann im beruflichen Leben der aufstrebenden polnischen Mittelschicht von großem Vorteil war. Umgekehrt hatten offenkundig viele deutschsprachige Katholiken keine größere Mühe damit, polnischsprachigen Gottesdiensten zu folgen. Eingeübt wurden solche Sprachfähigkeiten oft bereits in der Familie. In den Provinzen Posen und Westpreußen waren sogenannte "Mischehen" zwischen Protestanten und Katholiken, Deutschen und Polen keine Seltenheit, vielmehr blieb ihr Anteil von rund 5-10 Prozent an allen Eheschließungen in den beiden Provinzen bis zum Ersten Weltkrieg recht stabil.
Mit den parteipolitischen Implikationen von Transnationalität beschäftigt sich der letzte Teil des Buches. Deutschsprachige Katholiken waren bereit, ihre Stimme bei den Reichstags- und Landtagswahlen polnisch-nationalen Kandidaten zu geben, während die Zentrumspartei in beiden Provinzen nur schwer Fuß fasste. Polnische Arbeiter wiederum engagierten sich lieber bei der SPD als bei der PPS.
Die Arbeit enthält interessante Überlegungen und Perspektivenwechsel. Eine umfassende Neuinterpretation der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte im "preußischen Osten" gelingt Tilse jedoch nicht. Dies liegt in erster Linie an der Wahl der Quellen. Tilse stützt sich ausführlich auf zeitgenössische Statistiken und versucht, die grenzüberschreitenden sozialen Phänomene quantitativ zu erfassen. Dies führt allerdings dazu, dass Transnationalität häufig ex negativo erscheint, als eine statistische Restgröße für Lebenslagen und Verhaltensweisen, die sich nicht dezidiert einer der beiden nationalen Kategorien "Deutsche" und "Polen" zuordnen lassen. Von dieser sozialgeschichtlichen Makroebene gelangt Tilse nicht allzu oft auf die alltags- und kulturgeschichtliche Ebene individueller Akteure. Die einleitend angekündigte Untersuchung transnationaler Praktiken und Mentalitäten bleibt somit auf halbem Wege stehen.
Weit mehr Aufmerksamkeit widmet Tilse dagegen dem Bild, das sich Wissenschaftler, Politiker und Literaten im kaiserzeitlichen Deutschland von den Verhältnissen im Osten machten. So kommen der Statistiker Richard Böckh, der Nationalökonom Ludwig Bernhard, der Archivar und Historiker Max Bär oder die Sozialistin Rosa Luxemburg zu Wort, so werden Gustav Freytags Roman Soll und Haben sowie die "Ostmarkenliteratur" der Jahrhundertwende analysiert. Hier wird das in der historischen Forschung Bekannte bestätigt, ohne wesentlich Neues hinzuzufügen. In diesem Zusammenhang macht sich die nur kursorische Berücksichtigung polnischer Quellen und Literatur deutlich bemerkbar; vor allem aber fehlt der Blick auf die jüdische Bevölkerung, die ein dynamisches und pluralistisches Strukturmerkmal in der Gesellschaftsgeschichte des "preußischen Ostens" darstellte und daher zu Recht in jüngster Zeit wiederholt Gegenstand historischer Arbeiten geworden ist. An diesem Punkt, so ist leider zu konstatieren, fällt Tilses Buch merklich hinter den heutigen Reflexions- und Forschungsstand zurück.
Es ist ein bereits häufig beklagtes Problem der Transnationalen Geschichte, dass ihre theoretisch-methodisch überaus ambitionierte Agenda noch zu selten in überzeugende empirische Untersuchungen umgesetzt worden ist. Tilses Studie zu Posen und Westpreußen bildet hier keine Ausnahme.
Stephanie Zloch