David Cantor (ed.): Reinventing Hippocrates (= The History of Medicine in Context), Aldershot: Ashgate 2002, X + 341 S., ISBN 978-0-7546-0528-7, GBP 55,00
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Das Erkenntnisinteresse des zu besprechenden Bandes wird mit der Feststellung beschrieben, dass die traditionelle, philologisch dominierte Hippokrates-Forschung nur wenig über den Gebrauch und die Bedeutung von Hippokrates und den ihm zugeschriebenen Texten in bestimmten historischen Perioden auszusagen im Stande sei. Für den Herausgeber ist es alles andere denn zufällig, dass dieses Fazit gerade in dem Moment gezogen werden kann, wo der Vater der Medizin Einzug in den Cyberspace hält und in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen zu einem Namensgeber für Personen der imaginären Welt elektronischer Spiele avanciert. Die hier entwickelte historiografische Frage ist weniger darauf aus, den wahren Hippokrates zu identifizieren, um die Authentizität späterer Annäherungen und Beschreibungen zu beurteilen. Vielmehr wird der umgekehrte Weg eingeschlagen und die Frage gestellt, ob und in welchem Maß die existierenden Gebräuche und Bilder von ihm und seinen Texten Spuren der originalen Person und ihrer Einsichten aufgenommen haben und auf welche Weise Hippokrates seine durchdringende Präsenz in der westlichen Medizin und Kultur erreichen konnte. Bei dieser neuen, indirekt doch wieder an das Authentizitätsproblem anknüpfenden Frage zeigt sich bemerkenswerterweise, dass Authentizität erstens immer mit Genealogie, zweitens mit der Vorstellung textlicher Invarianz und drittens mit einer historiografischen und geschichtsphilosophischen Vorstellung von Verfall, Vereinfachung und Zerstörung verbunden bleibt.
In der Vergangenheit haben sich als besonders verheerend die Interpretamente der von wissenschaftlichen Interessen inspirierten Ärzte erwiesen. Verheerend deshalb, weil diese Interpretamente von Philologen und Historikern übernommen worden sind. Es geht den Autoren des Bandes also nicht darum zu zeigen, wie die Auseinandersetzung mit Hippokrates über die Zeiten dazu geführt hat, dass die Medizingeschichte "infiziert" worden ist, sondern um das Verständnis der kulturellen und sozialen Formung historischen Wissens als normaler Routine in der Wissensproduktion.
Hippokrates erweist sich als formbarer kultureller Artefakt, gestaltet und umgestaltet nach den entsprechenden Notwendigkeiten und Interessen. Dabei ist die Identifikation von genuinen Texten für die meisten Beiträge des Bandes recht uninteressant. In den Aufsätzen wird gezeigt, dass die einzelnen betrachteten Autoren recht unterschiedliche und manchmal geradezu entgegengesetzte Aussagen aus dem Corpus Hippocraticum (= CH) entwickelten, je nachdem, ob dieser oder jener Text favorisiert wurde. Das zentrale Anliegen kann als Frage danach beschrieben werden, wie sich bestimmte Gruppen und Personen innerhalb bestimmter historischer, kultureller und sozialer Umstände ihren Hippokrates zurechtlegten, wie sie ihn formten, benutzten und lasen und welche speziellen sozialen, kulturellen und technischen Ressourcen zu diesen Bildern und Vorstellungen herangezogen worden sind. Richtig stellt Cantor als Herausgeber fest, dass so betrachtet die hippokratische Tradition eine "'invented tradition', constantly reinvented over time" (3) war. Ist man von dieser Überlegung ausgehend schon berechtigt, von "Reinventing Hippocrates" zu reden, den Band so zu benennen und auf diese Weise alle Beiträge zusammenzubinden? Andere Beiträger sprechen von "rereading", "reassessing", "rediscovering", "recreating" oder "reborn"; der Herausgeber selbst entwickelt die Vorstellung von Transformationen, denen Hippokrates und das ihm zugeschriebene Schriftencorpus ausgesetzt gewesen seien.
Die Gebrauchsgeschichte des Corpus Hippocraticum der letzten etwa 500 Jahre zeigt, dass die Tatsache der Vereinigung so disparater Texte unter einem Namen dazu geführt hat, dass praktisch jegliche Form von Medizin ihre Wurzeln bis zu ihm hätte zurückverfolgen können. In den Beiträgen wird der Bogen von der Frage gespannt, warum die Medizin einen Vater brauchte, bis zu den in der Zwischenkriegzeit wieder aufflammenden medizinischen Diskussionen über holistische Betrachtungsweisen, wie sie in England, Deutschland und Frankreich mit deutlicher modernekritischer Tendenz und politischer Implikation geführt worden sind, und den Versuchen, "hippokratische" Themen in den Genres Literatur und Film zu behandeln. Es werden die unterschiedlichen Formen von Hippokratismus diskutiert, wobei sich zeigt, dass Hippokrates immer wieder umgeformt werden musste, um ihn einerseits den eigenen Fragestellungen und Begehrlichkeiten argumentationskompatibel zu machen und andererseits die dabei entstandenen Strategeme in der wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung nutzen zu können. Dabei werden die hippokratischen Schriften von einem Denkraum zu einer Methode der Beobachtung, die von Generation zu Generation weitergegeben werden sollte. Gezeigt wird das unter den sich wandelnden äußeren kulturellen, religiösen und politischen Bedingungen. Besonders aufregend zu verfolgen ist, wie die Person des Hippokrates als imaginärer Bezugspunkt immer mehr verschwindet, was als Ausdruck der Schwierigkeit gewertet werden darf, sich von ihm unanhängig zu machen, ohne selbst Schaden zu nehmen. Das 18. und 19. Jahrhundert vor allem in Nordamerika und Frankreich zeigt, wie sich jetzt die Situation geradezu umkehrt und die hippokratischen Texte, besonders die enigmatischen, durch eigene Forschungsergebnisse wie die Zellgewebslehre erhellt werden sollen. Im Folgenden kommt es zu einer Weiterentwicklung einer schon im französischen 18. Jahrhundert begonnenen Indienstnahme seiner Person als einer Professionalisierungsleitfigur mit dem besonderen Merkmal der ärztlichen Bildung, was auf der einen Seite im frühen 20. Jahrhundert zu einer von Ärzten und Öffentlichkeit betriebenen Dehistorisierung der Person führt im Sinne einer Berufsideologie, auf der anderen Seite beginnt eine Historisierung der Texte durch die Arbeit der Philologen.
Es wird erlaubt sein, auf einige Desiderate dieser an Fallbeispielen orientierten soliden Darstellung des abendländischen Hippokratismus seit 1500 aufmerksam zu machen. Es fehlt jeglicher Hinweis auf einen polnischen, ungarischen, russischen oder tschechischen Hippokrates, von einem spanischen oder italienischen ganz zu schweigen. Die außerordentlich bedeutsame deutschsprachige Diskussion über die hippokratischen Texte und ihren Autor, die in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts europaweit eine große Rolle gespielt hat und auf die die Etablierung eines akademischen Faches "Geschichte der Medizin" an deutschen Hochschulen in diesem Zeitraum zurückgeführt werden kann, wird nicht erörtert. Ebenso ausgespart und unberücksichtigt bleiben die Praktiken der Gelehrsamkeit mit ihrem unerhörten skeptischen Potenzial wie die Berücksichtigung universalhistorischer Vorstellungen, vor deren Hintergrund die wechselnden Hippokrates-Bilder entstanden. Sich mit Hippokrates zu beschäftigen hatte immer etwas mit einer Vorstellung historischen Verlaufs zu tun, auch außerhalb historiografischer Ambitionen. Vermutlich ist die thematische Ausrichtung des Bandes doch mehr als gewollt genau von jenem besonderen Ausgangspunkt inspiriert, den schon in den 50er-Jahren George Rosen als "iatrocentric point of view" kritisiert hat.
Die medizinhistorischen Diskussionen über Hippokrates und der Hippokratismus der 1920er- und 1930er-Jahre waren Stellvertreterdiskussionen über medizinethische und medizintheoretische Fragestellungen, die eigentlich hätten geführt werden müssen. Die klare Spezialisierung der Medizingeschichte, wie sie besonders von deutsch- und englischsprachigen Autoren vorangetrieben worden ist, hat diese Art von Hippokrates-Diskurs demaskiert und gerade in den letzten Jahren auf Fehlstellen aufmerksam gemacht, was zu der paradoxen Konsequenz geführt hat, nunmehr medizinethische Fragestellungen vorrangig historisch diskutieren lassen zu wollen, in Deutschland in medizinhistorischen Instituten und Einrichtungen. Dass ärztliche Diskussionen über Hippokrates zu Wanderbühnen mutierten, auf denen das ewig gleiche Stück über ärztliche Zuverlässigkeit gespielt wurde, darüber konnten Pilgerfahrten nach Kos unter die wohl mehr als einmal nachgepflanzte Platane, unter der der Meister unterrichtet haben soll, und das Aufstellen von Büsten in öffentlichen und privaten Räumen schon in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht hinwegtäuschen. Die elektronischen Spiele mit "Hippokrates" zeigen in ihrer kaum zu überbietenden Beliebigkeit den Konflikt nur noch deutlicher. Säkularisierung verstanden als Dechristianisierung führt zu jenem Hippokrates zurück, den wir nicht wahrhaben wollen, jenen paganen Koer aus dem 5. Jahrhundert vor Christus, von dem wir kaum mehr als das Geburts- und Sterbejahr wissen und der in den Agenden von Gesundheitsministerien nicht (mehr) vorkommt.
Hans-Uwe Lammel