Alexander Košenina (Hg.): Christian Heinrich Spieß: Biographien der Selbstmörder, Göttingen: Wallstein 2005, 272 S., ISBN 978-3-89244-864-8, EUR 29,90
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Aus Anlass des 250. Geburtstages von Christian Heinrich Spieß (1755-1799), einem Begründer des deutschen Schauerromans (Hermann Hettner), hat Alexander Košenina, Professor für deutsche Literatur an der Universität in Bristol, eine Auswahl von 25 der insgesamt 47 Biographien vorgelegt, die Spieß als Selbstmörderbiographien zwischen 1785 und 1788 in vier Bänden veröffentlicht hat. Spieß hat in Eisenstadt und Prag Theater gespielt und sich nebenbei als Dramatiker betätigt. Unter seinen Stücken ragt eine "Maria Stuart" (1783) und ein von Goethe in Weimar aufgeführtes Ritterschauspiel "Klara von Hoheneichen" (1790) heraus, von dem in Prag auch eine tschechische Übersetzung auf die Bühne kam.
Indes scheinen Selbstmord, Verbrechen und Wahnsinn als literarisches Sujet Spieß besonders fasziniert zu haben. Allein die auf Seite 244 zusammengestellten Fortsetzungen und Nachahmungen seiner "Biographien" sprechen ihre eigene Sprache. Der Herausgeber beschreibt in seinem lesenswerten Nachwort (245-271) die Fruchtbarkeit von "Ekel vor dem Leben" und "Krankheit zum Tode" (Goethe, Dichtung und Wahrheit) als literarische Themen im Anschluss an das Wertherfieber. Das verwundert nicht, war der Selbstmord als Thema doch geeignet, drei Momente zusammen und eng zuführen, die das späte 18. Jahrhundert umtrieb: die Diskussion über einen subjektiven Faktor bei der Entstehung von psychischen Verstimmungen in Form von Trübsinn, Verzweiflung und Melancholie - man war in diesem Punkt auf sich selbst neugierig geworden; die psychophysischen Faktoren der menschlichen Natur im Rahmen einer anthropologischen Bestimmung, und die gesellschaftlich-sittlichen Umstände, die diese psychischen Spielarten ermöglichten.
Gerade der zuletzt genannte Zusammenhang wird von Spieß aufgegriffen und ausgiebig genutzt. So ordnet sich die Spießsche Zusammenstellung von Selbstmordfällen in eine größere Debatte ein, die zu dieser Zeit gerade wieder unter Philosophen, Theologen, Juristen und Ärzten geführt wurde. Spieß selbst standen verschiedene "Datenbanken" (259) als Modelle zur Verfügung, um seine biografischen Arrangements zu machen: das "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" von Karl Philipp Moritz als Quelle bürgerlich-psychologischer Selbstauslotung, rechtshistorische Journale wie die "Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preußischen Staaten" sowie medizinische Fallbeschreibungen. Die Forschung dazu war bisher in der Lage, für eine einzelne Geschichte, allerdings aus den "Biographien der Wahnsinnigen", exemplarisch "die einmalige Mischung von Aufklärertum und Verrat" aufzudecken, die Technik der Verschränkung von Gefundenem und Erfundenem (260). Und gerade von diesem Wechselspiel von Belehrung und Unterhaltung, von einem Gespür für das Sensationelle und einem Penchant zum Moralisieren sind auch die vorliegenden Biographien inspiriert.
Welchen ungeheuren Einfluss die Trivialliteratur auf die Art der Problemdarstellung und auf die Geschmacksbildung des Publikums und seine Sensibilisierung für dergleichen politische Probleme hatte, zeigen einige der von Spieß zusammengestellten Fälle deutlich. Es hatte schon seine Berechtigung, dass ein Großteil der Aufklärer neben Selbstdenken und humaner Beurteilung auf die Überwindung von Vorurteilen setzte, also durchaus klar war, dass die Kontinuität in den Haltungen und Anschauungen über Menschen, die in die Gemeinschaft nicht passten bzw. nicht integrierbar schienen, das größere Gewicht besaß gegenüber den neuartigen Überlegungen von Selbstdenken und Ursachenbestimmung.
Die Sammlung bedient sich unterschiedlicher Genres. Neben der Kriminal- und Liebesgeschichte ist die Verführungsintrige vertreten, selten die experimental seelenkundliche Fallbeschreibung wie etwa in "Friedrich, Mörder und Selbstmörder aus Liebe". Ort und Zeit des Geschehens sind sehr unterschiedlich. Die Lebensgeschichten sind in unterschiedlichen Regionen Europas angesiedelt und verteilen sich über mehrere hundert Jahre. Auffällig ist die harsche Kritik des in Prag zum Katholizismus konvertierten Spieß an religiöser Schwärmerei. Aus all dem Gesagten scheint es naheliegend, dass die Rezensenten nicht nur die "Ausbeute" in "Psychologie und Moral" schätzten (262), sondern auch Furcht vor dem "Verderben" der Jugend äußerten. Spieß selbst war der festen Überzeugung, dass einer "Fortsetzung dieser Schrift [...] es nie an Materialien fehlen" werde.
Die Publikation ist sehr ansprechend gestaltet. Neben den Titelblättern der vier Einzelbände ist auch das jeweils dazugehörende Frontispiz wiedergegeben.
Der Herausgeber bezieht sich eingangs des Nachworts auf ein von Walter Benjamin in seinem Aufsatz "Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben" konzipiertes, fiktives Gespräch zwischen dem Verleger Johann Friedrich Unger und dem bereits erwähnten Berliner Lehrer Moritz. Beide fürchteten, so Benjamin, dass die "nichtswürdigen Scharteken dieses Herrn Spieß [...] auch in die Schulen" vordringen. Der von Alexander Košenina herausgegebenen Sammlung kann man dies nur wünschen.
Hans-Uwe Lammel