Stephan Conermann: Islamische Welten. Einführung, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12 [15.12.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/12/forum/islamische-welten-113/
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Von Stephan Conermann
In diesem Forum der "Islamischen Welten" werden zehn Bücher vorgestellt, die zum einen die Weite des Fachbereiches "Islamwissenschaft" aufzeigen, zum anderen auf wichtige, ja zentrale Forschungsfelder, aber auch Engpässe unserer Disziplin hinweisen.
Bekanntlich gibt es "d e n" Islam nicht oder nur in den Köpfen von Religionsgelehrten. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir es weltweit und damit auch im islamisch geprägten Kulturraum in erster Linie mit Nationalstaaten zu tun, deren gesellschaftliche wie institutionelle Grundlage die an westlichen Vorbildern orientierten Verfassungen sind. Die meisten individuellen Identitäten fußen heutzutage auf einer marokkanischen, jordanischen oder indonesischen Grundlage. Erst dann kommen sekundäre Muster wie Religion oder Ethnie hinzu. Um nicht pauschalisierende und essentialisierende Urteile über diese nationalstaatlichen Gesellschaften zu fällen, bräuchten wir neben guten politikwissenschaftlichen Schriften über einzelne Länder (Dieterich über George) dringend empirisch gestützte sozialwissenschaftliche, soziologische und ethnologische Studien. Da solche Arbeiten aber in der Regel von einzelnen Promovenden geschrieben werden, kommt es leider immer wieder zu methodisch sehr unsauberen Analysen, deren Aussagewert dann doch äußerst beschränkt ist (Dieterich über Dröber).
Eine sehr beliebte Form, sich islamwissenschaftlich zu betätigen, ist die Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk eines bestimmten muslimischen Gelehrten. Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie repräsentativ einzelne Denker eigentlich sind. Dieser geistesgeschichtliche Ansatz birgt doch die Gefahr so mancher Verkürzung und Verallgemeinerung. Dennoch ist es unumgänglich, sich mit der Denk- und Argumentationsweise solcher Persönlichkeiten vertraut zu machen, zumal wenn sie tatsächlich bestimmten Bevölkerungsgruppen als Integrationsfiguren dienen (Klein über Amirpur/Ammann).
Viele zentrale historische Ereignisse der islamischen Geschichte unterliegen regelmäßig einer grundlegenden Neubewertung. Dies ist einerseits selbstverständlich, denn das bekannte Material wird im Laufe der Zeit unter ganz neuen Fragestellungen und methodischen Herangehensweisen betrachtet. Andererseits tauchen aber immer noch ganz entscheidende neue Quellen auf, die zu einer Revision älterer Forschungsmeinungen führen (Conermann über Agha). Darüber hinaus kommt es erfreulicherweise auch vor, dass jemand eine Neuinterpretation eines klassischen Textes vorlegt, deren Interpretation unter den Fachvertretern aufgrund einer fundierten früheren Darstellung einer Koryphäe absurderweise als abgeschlossen gilt. Wer würde das etwa in der Literaturwissenschaft ernsthaft behaupten wollen? Wo wären wir, wenn man nicht versuchte, den "Doktor Faustus" oder "Die Brüder Karamasov" alle Jahre wieder ganz neu zu lesen (Conermann über Kermani)?
Ein Grundproblem für Islamwissenschaftler ist die Auseinandersetzung mit Muhammad und seiner Zeit. Die Quellenlage hat sich als überaus problematisch erwiesen. Selbst die frühe Entstehungszeit der Offenbarungsschrift wird von einigen westlichen Forschern angezweifelt. Eine historisch-kritische Analyse der Quellen, insbesondere des Korans, der Prophetenbiographie und der Überlieferungen, ist nicht einfach, da vor allem der Widerstand der muslimischen Gelehrten gegen eine solche Herangehensweise an heilige bzw. normative Texte ganz offensichtlich zu Analysehemmungen führt (Elger über Gordon).
In den letzten Jahren haben endlich historisch-anthropologische sowie alltags- und mentalitätsgeschichtliche Themen in die Islamwissenschaft Eingang gefunden. Allerdings hat sich schnell herausgestellt, dass wir vor allem für die vormoderne Zeit noch zu wenige substantielle Primärtexte haben, aus denen man ein Gesamtbild konstruieren könnte. Das Material ist zudem sperrig und entzieht sich nur allzu oft dem Zugriff des Wissenschaftlers. Aus diesem Grund scheint es sicher nicht sinnvoll, ein Potpourri alltagsgeschichtlicher Themen vorzulegen. Vielmehr sollte die sorgfältige Einzelanalyse ins Zentrum der Forschung rücken (Hees über Lindsay).
Dabei ist auch Interdisziplinarität gefragt, denn dass wir von anderen Disziplinen viel lernen können (und umgekehrt), steht außer Frage. Die Zusammenarbeit mit Kollegen anderer Fächer scheint eine conditio sine qua non zu sein, wenn es um Kulturkontakte etwa von Juden, Christen und Muslimen untereinander oder nach außen hin geht. Oft wird dabei allerdings nur eine Seite gut beleuchtet und die Beschreibung der anderen Gruppen aus der Sekundärliteratur übernommen. Ausnahmen bestätigen da die Regel (Conermann über Kauz).
Häufig finden sich auch Geisteswissenschaftler zusammen, um gemeinsam über ein offenbar in allen drei monotheistisch orientierten Gesellschaften vorhandenes Phänomen zu sprechen. Zum Beispiel über das Stiftungswesen und die damit zusammenhängenden Einrichtungen der memoria, caritas und maecenata. Wenn dann eine Konferenz zu solchen Themen stattgefunden hat, auf der jeder Forscher seine Perspektive und sein Fallbeispiel vorstellen durfte, muss es, wenn ein Sammelband geplant wird, die Aufgabe des Herausgebers sein, den Beiträgen durch eine methodenbewusste, analytische Einleitung eine innere Kohärenz zu verleihen. Schafft er dies nicht, so bleibt das Buch eine Aneinanderreihung von Einzelaspekten (Hartung über Borgolte).
Selbst die Islamwissenschaft hat sich seit einigen Jahren an die gründliche Aufarbeitung ihrer eigenen Fachgeschichte gemacht. Die jüngst erschienenen Studien von Sabine Mangold und Ekkehard Ellinger [1] stellen die Basis für weitere Forschungen dar. Erfreulicherweise rückt momentan die Beschäftigung mit den Gründungsvätern der Islamkunde in den Mittelpunkt des Interesses. Dabei sollte es vor allem das Ziel sein, die Diskurse offenzulegen, in denen die Gelehrten verankert waren (Conermann über Hariri).
Insgesamt erwarten den Leser also interessante Besprechungen zu mal mehr und mal minder gelungenen islamwissenschaftlichen Werken, die einige der (durchaus unterschiedlichen) Bereiche unseres Faches berühren. Welche Faszination von den Islamwissenschaften ausgeht, zeigt nicht zuletzt auch das Engagement, mit dem sich Tilmann Kulke (derzeit Damaskus) um dieses Forum redaktionell besonders gekümmert hat. Ihm sei an dieser Stelle für seine Bemühungen herzlich gedankt.
Anmerkung:
[1] Sabine Mangold: Eine "weltbürgerliche Wissenschaft". Die deutsche Orientalistisk im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004; Ekkehard Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 1933-1945, Edlingen-Neckarshausen 2006.