Navid Kermani: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München: C.H.Beck 2005, 335 S., ISBN 978-3-406-53524-6, EUR 24,90
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In der hier vorliegenden Arbeit geht um die Interpretation eines Werkes aus der Feder des berühmten persischen Dichters, Mystikers und Hagiographen Farīd ad-Dīn 'Aṭṭār (ca. 1145-1221). Über das Leben des aus Nīšāpūr stammenden Mannes, dessen eigentlicher Name Abū Ḥāmid Muḥammad b. Abī Bakr Ibrāhīm bzw. b. Sa'd b. Yūsuf lautete (Farīd ad-Dīn und 'Aṭṭār waren Künstlernamen), wissen wir nicht viel. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass er in seiner eigenen Zeit kaum bekannt war und man ihn erst im 15. Jahrhunderts "entdeckte". Neben Gedichten und einer Sammlung mit Lebensbeschreibungen bedeutender Sufis verfasste 'Aṭṭār vor allem eine Reihe langer narrativer Poeme, die heutzutage allesamt zu den Meisterwerken der persischen Literatur gerechnet werden. Navid Kermani hat sich nun von diesen "Klassikern" das "Buch der Leiden" (Muṣībat-nāma) zur Bearbeitung ausgesucht, in dem es vordergründig um den verschlungenen Pfad eines Mystikers auf seiner Suche nach Gott geht. Mit der Wahl des Autors und des Werkes begibt sich Kermani mitten in die traditionelle Islamwissenschaft hinein, denn gerade über 'Aṭṭārs Leben und Schaffen hat Hellmut Ritter mit seinem 800-seitigem opus magnum Das Meer der Seele einen Meilenstein deutscher Orientalistik vorgelegt. Dieses 1955 publizierte Werk, in dem es um Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Farīduddīn 'Aṭṭār geht, hat sich bisher als so grundgelehrt erwiesen, dass niemand es gewagt hat, einen neuen Deutungsversuch des 'Aṭṭārschen Œuvres vorzunehmen. Der Autor geht nun diesen Schritt, und das mit guten Gründen: Zum einen fasst Ritter das gesamte Schrifttum des persischen Autors zu einer Gesamtschau zusammen. Dabei fließen die einzelnen Werke zwar in das Gesamtkunstwerk ein, doch lässt dieses Vorgehen letzten Endes noch genug Raum für die intensive Auseinandersetzung mit einem Einzelwerk. Zum anderen sind alle narrativen Poeme, die 'Aṭṭār der Nachwelt hinterlassen hat, polysemantisch. Eine Lesart kann genauso plausibel sein wie eine andere. Kermani konzentriert sich in seinem Dechiffrierungsversuch auf wenige Motive, so dass er insgesamt zu einem sehr viel schärferen Bild gelangt, als wenn man das Gesamtwerk betrachtet. Hinzu kommt, dass Ritter 'Aṭṭār im Kontext der islamischen Geistesgeschichte vorstellt. Das Besondere und Faszinierende an der hier vorliegenden Habilitationsschrift ist die Verknüpfung der vorgeschlagenen Interpretation der 'Aṭṭārschen Weltsicht mit ähnlichen Aussagen im Christentum, Judentum, bei antiken Geistesgrößen und vielen Schriftstellern und Philosophen der Gegenwart. Auch wenn die von Kermani präsentierte Auslegung einiger Autoren anfechtbar ist, ist das Gesamtgefüge seiner Arbeit stimmig und überaus anregend. So unübersehbar die spezifisch mystischen Konnotationen und Allegorisierungsmöglichkeiten der Verse von 'Aṭṭār bleiben, entfalten sie zugleich existentielle, metaphysische oder soziale Bedeutungen, die meines Erachtens in der Tat historisch und universal verstanden werden können.
Um zu sehen, wie der Autor das Muṣībat-nāma versteht, möchte ich zumindest ein paar der im Text recht verstreuten Kernaussagen wiedergeben: Hauptgegenstand ist die Frage Hiobs, nämlich wie das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt in Einklang zu bringen sind mit dem Bild, das uns von Gott gelehrt wird. Hiobs Beispiel zieht sich durch die Geschichte der drei monotheistischen Religionen. Immer wieder haben Gläubige - Laien, Theologen, Philosophen, Dichter, auch Propheten - das Bild, das sie sich von Gott gemacht hatten, angesichts der Wirklichkeit voller Leid in Frage gestellt. Die Versuche, Gott zu rechtfertigen, knüpfen in allen drei abrahamitischen Religionen zunächst an die Deutung des Leidens an: Was der Mensch als böse wahrnimmt, ist gar nicht böse, sondern folgt höherer Weisheit. Pein wird gedeutet als Strafe, als Prüfung oder auch als Enttäuschung über der Menschen Untreue.
Das "Buch der Leiden" scheint ein versöhnliches Ende zu haben, doch hebt das 40. Kapitel die Verzweiflung der 39 vorangegangenen nicht auf. Der lange Epilog bringt es zutage: es gibt keine Aussicht auf Erlösung, keine Hoffnung auf Erbarmen. Der Nachspann wendet den Ausgang der Geschichte ins Utopische: Erfüllung und Glück existieren, aber der Mensch, der im Meer der Seele schwimmt, gelangt nie ans Ufer, nicht in dieser Welt und schon gar nicht in der nächsten. Dennoch hält man an der prinzipiellen Möglichkeit von Erlösung fest. Die Versöhnung selbst ist nicht aufgegeben, nur die Hoffnung sie zu erlangen. Die Menschen in 'Aṭṭārs Welt haben eine Ahnung von der Seligkeit, sie wissen, wo sie zu finden ist, nämlich in Gott und das bedeutet in uns selbst. Aber sie finden ihr Glück nicht, sie prallen immer nur an den Felsen ab.
Man hört auf, Gott zu verstehen, wenn man voraussetzt, dass Er gut und gerecht ist, aber feststellen muss, dass Er seine Allmacht nicht einsetzt, um unschuldiges Leiden zu verhindern. Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit, damit also das Problem der Theodizee, ist eine der frühesten Fragen der dialektischen Theologie im Islam. Nur der personal gedachte Gott der monotheistischen Religionen zieht den Verdacht der Allmacht auf sich, wobei die Allmacht Gottes in der islamischen Theologie ein umstrittenes Thema ist. Hält man an der Willensfreiheit des Menschen fest, kann Gott an dem Übel nichts ändern, und dann liegt der Gedanke nahe, dass Er selbst es ist, der am meisten darunter leidet. Der Gott, den 'Aṭṭārs Geschichten vorstellen, ist allmächtig, er könnte das jämmerliche Schicksal der Menschen ändern, wenn er wollte, aber er will einfach nicht, es interessiert ihn nicht, ja, Er scheint sich sogar einen Spaß daraus zu machen, die Menschen zu quälen. Nach allem, was der Mensch erkennen kann, tut Gott, was er tut, bewusst.
Der gewaltigste Ausbruch einer häretischen Frömmigkeit innerhalb des islamischen Kulturkreises scheint bis heute das "Buch der Leiden" geblieben zu sein. Mit Gott geschimpft hat niemand so leidenschaftlich wie 'Aṭṭār. Das gottverzehrende Gottanklagen, wie es das "Buch der Leiden" bündelt, fällt um so deutlicher ins Auge, als die Kultur, zu der 'Aṭṭār gehört, den großen Linien nach gerade das Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit ins Zentrum der religiösen Vorstellungen rückt. Wer ihn verneint, kann ihm auch nichts vorwerfen. Wer aber von Gott verlassen, verstoßen oder abgewiesen worden ist, spürt die Einsamkeit am grausamsten. Der Gott im "Buch der Leiden" gibt nichts, jedenfalls nicht freiwillig. Wer etwas von Ihm haben will, muss es sich nehmen, erkämpfen, notfalls stehlen. Die Motive Hiobs dürften in keinem anderen islamischen Text so zentral, so vielfältig variiert sein wie im Muṣībat-nāma: Das Motiv der Existenzverwünschung, des Leidens an des langen Lebens Tod, vor allem aber die notgeborene Wendung gegen Gott und der Appell, endlich zu halten, wozu er sich den Menschen gegenüber verpflichtet hat.
Navid Kermani stellt am "Buch des Leidens", wie er sagt, "jenes Extrem an Verzweiflung heraus, in dem sich der Mensch gegen seinen Schöpfer wendet. Die versöhnlich scheinende Wendung am Ende darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es 'Aṭṭār um die Pein des Daseins zu tun ist, angesichts dessen das Nichts verlockend wirkt. Jener Gott, der dem Gläubigen näher als die Halsschlagader sein soll, ist im "Buch der Leiden" fern. Es gibt ihn, aber ER ist fern. Im besten Falle".
In seiner hier veröffentlichten Habilitationsschrift hat Navid Kermani meines Erachtens eine fulminante Interpretation des 'Aṭṭārschen "Buch des Leidens" vorgelegt. Die Argumentation, die mit vielen Beispielen aus dem Werk untermauert wird, wirkt bestechend und überzeugt mich in vielen Bereichen sehr. Vor allem ist es jedoch die Fähigkeit des Autors, diese Deutung in einen sehr weiten geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen, die den großen Reiz des Buches ausmacht. Gerade die fortwährenden Vergleiche mit den Aussagen von Thomas von Aquin, Augustinus, Baudelaire, Beckett, Bloch, Büchner, Camus, Dante, Meister Eckhart, Foucault, Gryphius, Heine, Horkheimer, Jonas, Kirkegaard, Leibniz, Nietzsche, Pascal und Schopenhauer machen die Lektüre der Arbeit zu einem Genuss. Diese Vorgehensweise sprengt dabei die gemeinhin üblichen "Spielregeln" von solchen Qualifikationsschriften. Allerdings tun derartige Übertretungen, wenn sie sich denn - wie in diesem Fall - noch innerhalb des geisteswissenschaftlichen Paradigmas abspielen, einem Fach in der Regel sehr gut. Sie reißen die Fachgrenzen nieder und eröffnen damit neue Horizonte. Als Fachvertreter kann ich nur sagen, dass ich diese Arbeit als einen überaus erfrischenden und anregenden Beitrag zur Islamwissenschaft empfinde. An keiner Stelle habe ich das Gefühl, mich außerhalb des westlich-wissenschaftlichen Diskurses zu befinden. Kermanis Buch entfaltet nicht zuletzt dank ihres intensiven Duktus eine suggestive Kraft, der sich ein Leser nicht ohne weiteres entziehen kann. Bei der zweiten Lektüre möchte man allerdings an vielen Stellen einmal nachhaken, inwieweit die so unbeschwert daherkommenden Analogien und zugespitzten Aussagen wirklich einer intensiven Überprüfung standhalten. Damit leistet der Autor aber genau das, was Geisteswissenschaft leisten sollte, nämlich die indirekte Aufforderung, sich mit den aufgestellten Thesen weiter zu beschäftigen, um sie gegebenenfalls zu bestätigen oder zu verwerfen. Insofern wird man sich in Zukunft nicht nur mit Ritter, sondern auch mit Kermani auseinandersetzen müssen, wenn man etwas Wissenschaftliches zu Farīd ad-Dīn 'Aṭṭār sagen will.
Anmerkung der Redaktion:
Für eine komplette Darstellung der arabischen Umschrift empfiehlt es sich, unter folgendem Link die Schriftart 'Basker Trans' herunterzuladen: http://www.orientalische-kunstgeschichte.de/orientkugesch/artikel/2004/
reichmuth-trans/reichmuth-tastatur-trans-installation.php
Stephan Conermann