Andrew Lane: A Traditional Muʿtazilite Qurʾān Commentary. The Kashshāf of Jār Allāh al-Zamakhsharī (d.538/1144) (= Texts and Studies on the Qur'ān; Vol. 2), Leiden / Boston: Brill 2006, xiii + 418 S., ISBN 978-90-04-14700-3, EUR 145,00
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In der Bewertung der Bedeutung von Kommentarliteratur als Dokument von geistesgeschichtlichen Entwicklungen hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel vollzogen. Etwas später als in anderen Disziplinen ist nun auch im Bereich islamkundlicher Forschung ein Bewusstsein dafür entstanden, dass - unter Anwendung geeigneter Methodologie - die spezifische hermeneutische Situation dieser Literaturgattung wichtige Einblicke in das Geistesleben verschiedener Epochen gewähren kann. Die philologische und darauf aufbauend dann auch die analytische Aufarbeitung der Kommentarliteratur hat dabei oft mit den Auswirkungen einer paradoxen Konstellation zu kämpfen: Gerade die hohe Popularität bestimmter Kommentarwerke, die große Anzahl von Manuskripten und Druckausgaben sowie auch die Tatsache, dass vermeintliche Basisdaten zu Leben und Werk der Autoren einem großen Personenkreis wohlbekannt sind, sind Faktoren, die eine kritische Evaluierung dieser Literatur erschweren.
Dies gilt nun auch für den al-Kaššāf, einen Korankommentar des al-Zamaḫšarī (gestorben 538/1144), ein Werk das trotz der ihm zugeschriebenen mu'tazilitischen Tendenzen bis heute einer der am weitesten verbreiteten Korankommentare ist. So wertet die vorliegende Studie mehr als 200 Manuskripte des al-Kaššāf aus und kann dabei interessante Einblicke in die Überlieferungsgeschichte des Textes bieten (Kapitel 2 "History of the Text from 528/1134 to the Present", 48-101, cf. auch den Appendix). Eine ähnlich überreiche Überlieferung betrifft auch Informationen zur Bio- und Bibliographie des al-Zamaḫšarī. Hier kann die Studie jedoch aufzeigen, dass die zahlreichen Darstellungen auf äußerst schmaler direkter historischer Evidenz beruhen, viele Berichte wiederholen lediglich eine begrenzte Anzahl von Stereotypen (Kapitel 1 "Al-Zamaḫsharī the Scholar", 9-47). In diesen ersten beiden Kapiteln bietet Lanes Studie eine gründliche Aufarbeitung einer schier unübersehbaren Masse von Material. Auch wenn der Leser vielleicht dankbar wäre, wenn ihm der Detailreichtum dieser beiden Kapitel stärker fokussiert präsentiert werden würde, stellen diese beiden Kapitel eine äußerst bedeutende analytische und synthetische Leistung seitens des Autors dar.
Problematischer erscheinen jedoch die folgenden Kapitel. Bereits in den ersten beiden Kapiteln klingt in Lanes Darstellung gelegentlich eine Frage durch: Ist es wirklich zutreffend, dass al-Zamaḫšarī ein mu'tazilitischer Theologe war, und transportiert der al-Kaššāf tatsächlich mu'tazilitische Theologie?
Diese Frage ist zwar provokant, sie zu stellen ist jedoch legitim, und tatsächlich zielt diese Frage auf ein zentrales Problem der späteren islamischen Geistesgeschichte: Was wissen wir eigentlich über das Wechselspiel der verschiedenen Elemente, die in dieser Zeit islamische "Orthodoxie" konstituieren? Wie entwickelt sich theologische Dogmatik, welche Rolle spielt die Mu'tazila hierbei, und wird "Orthodoxie" in dieser Zeit tatsächlich primär über die Zugehörigkeit zur einer bestimmten theologischen Schule definiert? Wie verhält sich dies zur Herausbildung der Rechtsschulen? Welchen Einfluss hat das gewählte literarische Genre (z.B. "Korankommentar", "Kurzdarstellung des Dogmas", "theologische summa") auf die Ausformulierung von Inhalten?
Jedoch: Genau solche weiterführenden Fragen stellt die Studie nicht, und leider versäumt sie es auch, ihre teilweise völlig berechtigte Infragestellung gängiger Analysekriterien in methodisch befriedigender Weise zu untermauern. Trotz der provokanten These vermisst man in der eigentlichen Argumentation ein gewisses "Selbstbewusstsein" im Umgang mit Autoritäten. Dies dort, wo Lane zwar bemerkt, dass von ihm herangezogene Autoritäten offenbar keine befriedigende Klassifikationsmerkmale bieten, Lane es aber versäumt, aufgrund seiner eigenen Kompetenz in rebus al-Zamaḫšarī Alternativen zu erarbeiten.
Im dritten Kapitel, das sich mit Struktur und Methode beschäftigt, mag man zunächst bedauern, dass der Referenzpunkt der Analyse im Wesentlichen eine recht begrenzte Auswahl von ausschließlich "islamkundlich" geprägten Autoren ist. Literaturwissenschaftliche Perspektiven, die auch in Nachbardisziplinen diskutiert werden, fehlen. Wichtige Bezugspunkte bilden ein Aufsatz von Norman Calder, Darstellungen von Jane McAuliffe und Andrew Rippins (letztere beiden Darstellungen stammen zwar von prominenten Koranexperten, sind aber zumindest im zur Diskussion stehenden Kontext nur oberflächliche Überblicksdarstellungen), ferner Walid Salehs Konzept des madrasa tafsīr und natürlich Goldzihers Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. Lane ist dabei wohl einer der ersten Autoren, der die Schwäche von Salehs Konzept des madrasa tafsīr bemerkt (cf. 113-117, man mag hinzufügen, dass Salehs Konzeption im Wesentlichen eine Neuauflage und Übertragung einer bereits in den 1960ger-Jahren von J. van Ess gemachten Beobachtung ist, vgl. Die Erkenntnislehre des 'Aḍudaddīn al-Īcī. Wiesbaden 1966, insbesondere Seite 33 zum "auf- und abladen" von Lehrstoff). Ebenso kann Lane sehr deutlich zeigen, dass Goldzihers Beschreibung und auch historische Einordnung von al-Zamaḫšarīs allegorischer Methode nicht ausreichend ist. Dass Goldzihers im Jahre 1920 veröffentlichte Vorlesungsreihe bis heute die wichtigste Referenzdarstellung ist, und dass das Werk zahlreiche problematische Details enthält, schmälert wohl kaum Goldzihers Verdienste. Jedoch sollte eine beinahe 90 Jahre später erscheinende Studie den Mut besitzen, Fehler in Goldzihers Darstellung zu korrigieren, und auch eigene Ansätze zu entwickeln. So unternimmt Lane keinerlei Versuch, anhand einer Serie von Vergleichen zu verifizieren, inwiefern sich al-Zamaḫšarīs Verwendung allegorischer Exegese von der anderer Autoren unterscheidet oder eben nicht unterscheidet. Auch andere Spezifika der Exegese müssten in einem weiter gespannten historischen Kontext untersucht werden. Nur so ließe sich der mu'tazilitische oder nicht-mu'tazilitische Charakter von al- Zamaḫšarīs Kommentierungsmethode überprüfen.
Auch sonst erscheint Lanes Methode beim Vergleich so unterschiedlicher Genera wie 'Korankommentar' und 'dogmatischem Abriss' merkwürdig unausgereift. Dass eine Darstellung, die bestimmte Texte wählt, Teil einer auktorialen Strategie sein kann, wird dabei überhaupt nicht reflektiert, dies, obwohl hier sogar wichtige Vorarbeiten bestehen. So hatte S. Schmidtkes Einleitung zur Edition von al-Zamaḫšarīs "Credo" al-Minhāǧ fī uṣūl ad-Dīn beobachtet, dass es der spezifische Charakter von al-Zamaḫšarīs Darstellung ist, dass er darauf verzichtet, Widersprüchlichkeiten und Streitpunkte in der mu'tazilitischen Lehre ausführlich darzustellen. Schmidtke deutet gerade diese Abwesenheit als ein Zeichen dafür, dass al- Zamaḫšarī bewusst auf eine synthetische Präsentation der mu'tazilitischen Lehre hinarbeitet. Auch im folgenden Kapitel von Lanes Studie, das sich mit der Verwendung von Ḥadīṯ im al-Kaššāf beschäftigt, vermisst man weiterführende Fragestellungen. Die Stärken der Studie, nämlich die sorgfältige Auswertung großer Mengen an Quellenmaterial kommen wieder zum Tragen im folgenden Kapitel, das sich mit den Quellen des al-Kaššāf befasst.
Die provokante zentrale These der Studie wird im abschließenden Kapitel nochmals formuliert: "This study, then, puts to rest the myth that the Kashshāf is a 'Mu'tazilite commentary' that began with al- ḥamdu li-llāh alladhī ḫalaqa l-Qur'ān, and demonstrates that it would even be difficult to define what a 'Mu'tazilite commentary' actually is" (229). Diesen Anspruch kann die Studie meiner Meinung nach nicht erfüllen.
Heidrun Eichner