Ulrike Mitter: Das frühislamische Patronat. Eine Studie zu den Anfängen des islamischen Rechts (= Kultur, Recht und Politik in Muslimischen Gesellschaften; Bd. 8), Würzburg: Ergon 2006, 605 S., ISBN 978-3-89913-460-5, EUR 64,00
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Eine Gesellschaft, die Menschen als Sklaven hält, ist uns heute fremd. Dass es in islamischen Gesellschaften Sklaven gab, entspricht nicht dem Bild, das wir vom Nahen Osten haben. Das liegt daran, dass die Sklaverei in den vergangenen Jahrhunderten in der islamischen Welt aufgehört hat - zumindest offiziell - zu existieren. In dieser Frage ist die islamische Welt zweifellos in der Moderne angekommen. Dass das Sklaventum aber über eine lange Zeit und beinahe vom Anbeginn des Islams an in der muslimischen Gesellschaft präsent war, davon zeugt Ulrike Mitters Monographie, die eine leicht überarbeitete Version ihrer Dissertation ist (9).
Die Autorin setzt sich mit den juristischen Diskussionen kritisch auseinander, die an dem Punkt ansetzen, an dem der ehemalige Sklavenbesitzer seinen Sklaven freilässt. Als Folge der Freilassung, die auf vier Arten von statten gehen konnte - durch Geburt eines Kindes, freiwillige Freilassung vor oder nach dem Tod des Herren oder durch Loskauf (150) -, entstand ein Patronatsverhältnis (walā') zwischen dem Freilasser, dem Patron (maulā), und dem Freigelassenen, dem Klienten (maulā). Dieses durch Freilassung entstandene Patronatsverhältnis (walā' al-'itq) bildet den Schwerpunkt von Ulrike Mitters Untersuchung (151). Probleme traten im islamischen Recht auf, wenn es um die gegenseitigen Rechte und Pflichten zwischen dem Patron und seinem maulā, im Sinne von Klient - so verwendet die Autorin den Begriff in ihrer Monographie (151) - ging. Die Rechtsgelehrten stellten sich verschiedene Fragen: Hat der Freilasser einen Anspruch auf das Patronat? Wenn der Freigelassene stirbt, hat dann der Freilasser einen Anspruch auf dessen Erbe? Und wenn ja, welche anderen Erben sind wie zu berücksichtigen? Kann der Freigelassene seinen Patron beerben? Wenn der Freigelassene jemanden tötet, wer zahlt dann das Blutgeld? Darf ein Freilasser einen Sklaven "bedingungslos" freilassen und dadurch auf sein Patronatsrecht verzichten? Wenn ja, welche Folgen hat das für das Erb- und Blutgeldrecht? Darf der Freilasser das Patronat verkaufen, verschenken oder vererben?
Diese Fragen untersucht Ulrike Mitter mit Hilfe der isnād-cum-matn-Analyse (24), die es ihr erlaubt "ohne vorfabrizierte Meinungen" (158) an die Quellen - frühe und klassische ḥadīṯ- und fiqh-Werke - heranzutreten. Dieser Punkt ist der Autorin besonders wichtig, da ihre Studie zwei Stoßrichtungen hat. Erstens setzt sich Ulrike Mitter kritisch mit Patricia Crones Thesen zur Entstehung des islamischen Patronats [1] auseinander. Dabei kommt sie zu unterschiedlichen und deutlich besser begründeten Ergebnissen. Das führt dazu, dass man Patricia Crones Buch ohne das Hinzuziehen von Ulrike Mitters Monographie nicht mehr lesen kann. Zweitens beleuchtet die Autorin die Argumentation verschiedener Wissenschaftler kritisch, die das islamische Recht in weiten Teilen auf nicht-islamisches Recht zurückführen. Am Anfang ihrer Monographie listet sie eine Reihe von Rechtsregeln auf, die aus dem nicht-islamischen Recht stammen sollen (35-134). Nach der Lektüre dieser Liste erhält man den Eindruck, dass tatsächlich ein Großteil des islamischen Rechts importiert wurde.
Dass dem nicht so ist, will die Autorin am Beispiel des Patronats belegen. Sie rekonstruiert mit Hilfe der isnād-cum-matn-Analyse die Überlieferungen früherer Tradenten. Diese Überlieferungen weisen ein bestimmtes Muster auf: Sie haben gemeinsame und gleichzeitig unterschiedliche Textelemente. Dieser Befund ist nach Meinung der Autorin nicht durch Fälschung der Überlieferungen, sondern nur dadurch zu erklären, dass die Überlieferungen entsprechend der Angaben im isnād tradiert wurden (318; 537-538). Dass es dennoch zu Fälschungen bzw. zu falschen Zuschreibungen gekommen ist, leugnet sie nicht. Da sie bei jeder rekonstruierten Version sehr sorgsam überlegt, ob es sich um eine Fälschung handelt oder nicht, findet sie auch Beispiele für gefälschte Überlieferungen (211; 241). Die rekonstruierten Versionen kann Ulrike Mitter über das Todesdatum der Gewährsleute datieren. Mit Hilfe dieser Datierung trifft sie Aussagen über die Entwicklung des islamischen Rechts im 1. und 2. Jahrhundert hiǧra am Beispiel des walā'.
Im letzten Kapitel stellt die Autorin diese Entwicklung wie folgt dar (527-530): In der 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts existierte das islamische Patronat bereits. Dies belegt die Autorin mit Hilfe der Barīra-Überlieferung, die sie überzeugend bis auf 'Ā'iša zurückführen kann. 'Ā'iša zitiert den Propheten, der ihr das Patronatsrecht für eine von ihr freigelassene Sklavin (Barīra) zugesprochen hat. Auch der Verkauf, das Verschenken und die "bedingungslose" Freilassung (tasyīb) waren zu dieser Zeit noch üblich. Starb der Patron, dann wurde das Patronat einigen Gefährten zufolge nach den normalen Erbregeln, anderen Gefährten zufolge nach dem kubr-Prinzip (= es erbt der Agnat des Patron) vererbt. Im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts setzte sich mehr und mehr die Meinung durch, dass das Patronat nicht verkauft werden solle. Über den Rang des Patrons - im Falle des Todes des Klienten - in der Erbfolge herrschten zu dieser Zeit noch unterschiedliche Meinungen vor: Er konnte sowohl als Agnat als auch erst an letzter Stelle erben. Auch ein Freigelassener konnte zu diesem Zeitpunkt seinen Patron noch beerben. Um die Jahrhundertwende setzten sich die Gelehrten der tābi'ūn-Generation im Irak und im Ḥiǧāz systematisch mit dem Patronatsrecht auseinander. Das kubr-Prinzip wurde von den meisten Gelehrten befürwortet und das Patronat wurde mehr und mehr als verwandtschaftsähnliches Verhältnis angesehen. Mit dem Verbot der "bedingungslosen" Freilassung und des walā'-Verkaufs hatte sich in der Mitte des 2. Jahrhunderts die klassische Lehre herausgebildet, die darüberhinaus folgende Regeln umfasst: Der Patron erbt als Agnat; er hat die Blutgeldverpflichtung für seinen Klienten; das Patronat wird an den kubr des Patrons vererbt.
Zu dieser ausführlichen und tiefgründigen Studie möchte ich drei kritische Anmerkungen machen. Erstens fällt der inkonsistente Gebrauch des common link- bzw. des partial common link-Begriffs auf. Regelmäßig bezeichnet die Autorin Tradenten als common link (CL), die in den isnād-Bündeln eindeutig partial common links (PCL) sind (165; 180; 225; 271; 354; 404). Am deutlichsten wird dieser Widerspruch, wenn Mālik b. Anas gleichzeitig als PCL und als CL bezeichnet wird (184; 551). Die Autorin geht wohl so vor, dass sie die Überlieferungen eines CL rekonstruiert, der sich dann nach Hinzuziehung anderer rekonstruierter Versionen zu einem PCL wandelt und einen neuen, älteren CL hervorbringt (223). So schlüssig dieser Ansatz ist, es bleibt die Verwirrung beim Gebrauch der CL- und PCL-Bezeichnungen. Ein paar Worte in der Einleitung zu diesem Konzept würden schon Abhilfe schaffen.
Zweitens argumentiert die Autorin gestützt auf die Ergebnisse Harald Motzkis [2] regelmäßig für eine allgemeine Zuverlässigkeit der isnāde 'Abd ar-Razzāq > Ma'mar > az-Zuhrī (170; 261) und 'Abd ar-Razzāq > Ibn Ǧuraiǧ > dessen Quellen (189; 208). Die Einschränkung, dass Tradenten im Einzelfall auch verfälschte Überlieferungen weitergegeben haben könnten, führt die Autorin erst spät auf (241; 316). Verfälschungen weniger der falschen Quellenangabe als vielmehr durch Fiktionalisierung des matn kamen im frühen Kollegbetrieb häufig vorkamen.
Der dritte Punkt ist die Frage nach der Historizität der rekonstruierten Überlieferungen, die Ulrike Mitter in ihrer Untersuchung nur streift. Zwar versucht die Autorin bei den meisten Überlieferungen - bei der wichtigen Barīra-Tradition leider nicht - Argumente für oder gegen deren Historizität aufzuführen, doch bleiben diese Argumente auf Wahrscheinlichkeiten beschränkt. In meiner in Bälde erscheinenden Untersuchung zur Eroberung von Damaskus wähle ich den Fiktionalisierungsgrad einer Überlieferung als Kriterium. Gregor Schoeler führte in dieser Frage das Konzept der oral history in die Debatte ein. Es bleibt allerdings ein wichtiges Dessiderat der Islamwissenschaft, weitere Argumente zu entwickeln, die für oder gegen die Historizität eines rekonstruierten Textes sprechen.
Trotz dieser Anmerkungen bleibt Ulrike Mitters Monographie eine wichtige, lesenswerte Studie, mit welcher sie den Nutzen der isnād-cum-matn-Analyse für die Rekonstruktion der islamischen Frühzeit erneut unter Beweis gestellt hat und dem Leser neue Einblicke in die Entstehung des islamischen Rechts verschafft hat.
Anmerkungen:
[1] Patricia Crone: Roman, Provincial and Islamic Law. The Origins of the Islamic Patronate. Cambridge 1987.
[2] Harald Motzki: Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts. Stuttgart 1991.
Jens Scheiner