Davide Scruzzi: Eine Stadt denkt sich die Welt. Wahrnehmung geographischer Räume und Globalisierung in Venedig von 1490 bis um 1600 (= Studi. Schriftenreihe des deutschen Studienzentrums in Venedig. Neue Folge; Bd. III), Berlin: Akademie Verlag 2010, 365 S., ISBN 978-3-05-004665-5, EUR 69,80
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Venedig in der Welt - das ist das Thema dieser Zürcher Dissertation. Ausgehend von der These, dass die Globalisierung nicht erst ein Phänomen der jüngeren Vergangenheit ist, sondern bereits mit dem klassischen Datum anzusetzen ist, das üblicherweise den Beginn der Neuzeit markiert, also mit der ersten Fahrt Kolumbus' über den Atlantik, will der Verfasser aufzeigen, wie sich das "Welt-Bild" Venedigs in der Folge während des späten 15. und 16. Jahrhunderts gewandelt hat. Es geht ihm dabei in einem kultur- und diskurshistorischen Sinn um einen Wandel auf der Bewusstseins- und Wahrnehmungsebene, weniger um Vorgänge im Bereich der Wirtschaft oder der Politik.
Diese Frage am Beispiel Venedigs zu exemplifizieren, ist natürlich reizvoll. Schließlich war Venedig während des Spätmittelalters eine der wichtigsten Städte der mittelmeerischen, in diesem Sinn noch nicht globalisierten Welt. Und die Stadt war von der allmählichen Verlagerung wichtiger Handelsströme unmittelbar betroffen. Denn das Mittelmeer verlor seinen Rang als wichtiger Warenumschlagplatz an den Atlantik, und die Waren des Levante-Handels, von dem Venedig ganz wesentlich profitiert hatte, fanden nun ihren Weg auf portugiesischen Schiffen nach Europa. Eine klassische, wenn auch in dieser Form nicht mehr ausschließlich vertretene These der Historiographie lautet denn auch, dass Venedigs Niedergang von der spätmittelalterlichen Großmacht zum neuzeitlichen Stadtstaat durchschnittlicher Bedeutung mit eben diesem frühneuzeitlichem Globalisierungsprozess begonnen habe.
Das Schema von Einleitung, Hauptteil und Schluss findet beim Aufbau der Arbeit Anwendung: In einem "Grundlagen" betitelten Kapitel werden die begrifflichen Instrumente expliziert, mit denen Scruzzi sein Material untersucht. Dabei kommen neben "Raum" und "Globalisierung" vor allem die aus der Raumsoziologie bekannten "kognitiven Karten" sowie Formen der Raumkonstitution durch "Spacing" und "Synthese" zum Einsatz. Insbesondere die beiden letzteren Begriffe nehmen eine wichtige Stellung ein, da sie den Übergang von den raumtheoretischen Überlegungen zu den empirischen historischen Gegenständen ermöglichen. Als raumkonstituierende Faktoren werden in diesem Zusammenhang beispielsweise Verkehrsmittel, Briefe, Gesandte, Handelsniederlassungen, Globen oder Bilder genannt. Das historische Material, auf das sich Scruzzi jedoch vor allem bezieht, besteht einerseits aus geographischen Texten und Karten, andererseits aus zeitgenössischem Verwaltungsschriftgut und Tagebüchern.
Ein umfangreicherer, chronologisch aufgebauter Hauptteil widmet sich für den Zeitraum von 1490 bis 1600 insgesamt vier Phasen der venezianischen Raumwahrnehmung und Raumkonstitution im Kontext der Erweiterung europäischer Raumvorstellungen durch die Eroberung Amerikas und die Seereisen nach Asien. Dabei wird, auch im venezianischen Fall, die Langsamkeit deutlich, mit der beide Raumbewegungen in den kognitiven Karten der Zeitgenossen Eingang gefunden haben.
Auch wenn sich die chronologische Darstellung für das Anliegen des Bandes sicherlich anbietet, wirkt die Einteilung in vier Phasen wenig überzeugend. Sicherlich sind Unterschiede feststellbar, aber daraus differente Phasen abzuleiten, wirkt etwas weit hergeholt. Nur konsequent ist es, wenn diese Einteilung für die Gesamtargumentation dann auch keine tragende Rolle mehr spielt. Innerhalb der einzelnen Phasenkapitel werden Unterkapitel aneinander gereiht, die sich jeweils einer Quelle (oder einer kleineren Quellengruppe) widmen. Auch dieses additive Verfahren, das seine Synthese erst in einem Zwischenfazit findet, zerstückelt die Argumentation über Gebühr.
In einem Schlussteil wird nach den "Antriebselementen" gefragt, die eine "kognitive Globalisierung" in Venedig begünstigten beziehungsweise verzögerten. Interessanterweise wird hier ganz klassisch argumentiert, nämlich auf der wirtschaftlichen und politischen Ereignisebene. Dass diese Faktoren eine Rolle gespielt haben, ist nicht zu bestreiten, aber dass kulturelle und mediale Aspekte hier hintan stehen, muss verwundern. Und wenn sie dann genannt werden, dann in einem offen gestanden etwas befremdlichen Kontext.
Verantwortlich hierfür scheint mir die wiederholte Bezugnahme auf Peter Sloterdijk und dessen Thesen zur Globalisierung ("Im Weltinnenraum des Kapitals"). Zuweilen scheint es so, als diene Sloterdijk nur als autoritativer Stichwortgeber für Thesen, die Scruzzi auch ohne diesen Großintellektuellen zu Papier hätte bringen können. In anderen Fällen war die Sloterdijk-Lektüre aber auch verantwortlich für etwas steile Thesen, wie diejenige vom "Spiel" mit Globen und Atlanten. Denn die Frage aufwerfend, was denn die Patrizier und Humanisten taten, als sie im 16. Jahrhundert auf zeitgenössische geographische und kartographische Produkte blickten, antwortet Scruzzi sich selbst: "Sie gaben sich doch der Illusion hin, Geographen zu sein, Seefahrer, Entdecker, dachten sich in hochwissenschaftliche Gespräche zu verwickeln, während sie in Wahrheit Dinge diskutierten, die schon seit Jahrzehnten geklärt waren. Warum nicht dieses Treiben als Spiel entlarven? Ein schönes Spiel, um sich die Zeit zu vertreiben. Ein sicheres Spiel, das einem gleichzeitig die Herrschaft über die Weltmeere erlaubte, dank der Darstellung der Welt in Wort und wohl vor allem auch in Bild" (239). Dieses Argument ist in etwa so stichhaltig, als wollte man im frühen 21. Jahrhundert einem Spezialisten für die Geschichte Venedigs im 16. Jahrhundert die Frage stellen, warum er sich denn diesem unnützen Vorhaben hingebe - wenn nicht aus Spielerei, um im Nachhinein die Geschichte besser gewusst zu haben als die Zeitgenossen. Die geographischen (und anderen wissenschaftlichen) Studien, die im 16. Jahrhundert mit welchem unmittelbaren Nutzen (oder eben auch nicht) betrieben wurden, als vergnügliche Nebensächlichkeit abzutun, trifft auf jeden Fall nicht den Kern.
Mit Bezug auf Sloterdijk wird dann das Spiel mit dem Globus im übertragenen Sinn als "sinnlich-übersinnliche Figur der Kugel" bezeichnet, die "der conditio humana die Form eines Spiels auf[prägt], das seine Spieler unterhält, ermächtigt und übersteigt. Wer mit Kugeln spielt, gerät [...] an eine übergroße, überschöne, überrunde Kugel, die ihre Spieler überrollen muss" (241). Sloterdijk mag bei diesem Zitat Charlie Chaplins berühmtes Ballett mit dem Globus in "The Great Dictator" im Hinterkopf gehabt haben. Ob Scruzzis Anliegen mit solchen Assoziationen gedient ist, bleibt fraglich, zumal er sich mit einem solchen globalisierungstheoretischen Unterboden eine teleologische Grundtendenz aufhalst, die den historischen Blick eher verstellt als befreit.
Auch in anderer Hinsicht kann es nicht ohne Gemecker abgehen. Das betrifft zum einen Formales wie die Tatsache des uneinheitlichen Umgangs mit Quellenzitaten, die mal ins Deutsche übersetzt werden, mal aber auch im Lateinischen oder im Venezianischen des frühen 16. Jahrhunderts stehen gelassen werden, was der Rezeption durch Nicht-Expertinnen und Nicht-Experten kaum förderlich ist.
Mäkeleien betreffen zum anderen aber auch inhaltliche Aspekte. Da wäre die Frage des Untersuchungszeitraumes: Selbstredend müssen solche Zuschneidungen auch immer arbeitsökonomischen Notwendigkeiten gehorchen, aber aus der Studie wird nicht nur nicht deutlich, warum der Schlusspunkt um 1600 gesetzt wird, sondern es lässt sich auch bezweifeln, ob dies tatsächlich eine kluge Entscheidung war und ob nicht die weitere Entwicklung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts dem präsentierten Bild noch Wesentliches hätte hinzufügen können. Die Frage nach dem zeitlichen Rahmen führt direkt zu einem möglicherweise noch bedeutsameren Aspekt, den man schmerzlich vermisst, nämlich der Kontextualisierung Venedigs durch weitere zeitgenössische Beispiele: Wie gingen andere Städte mit dieser Situation um? Hierzu finden sich nur wenige Bemerkungen (261-266).
Eine solche Einordnung hätte auch die intensivere Behandlung einer Frage erlaubt, auf die man bei Scruzzi leider kaum Antworten findet. Gerade vor dem Hintergrund eines diskurshistorischen Ansatzes, den der Verfasser für sich reklamiert (15f.), hätte man erwarten können, dass das Problem stärker in den Mittelpunkt gerückt wird, warum sich ausgerechnet dieses Raumwissen im venezianischen 16. Jahrhundert etablierte. Wertende Urteile wie das folgende helfen hingegen kaum weiter: "Betrachten wir die Reaktion Venedigs auf diese erste Startphase der Globalisierung, muss das Urteil eher negativ sein: die Ereignisse wurden zu spät registriert, die Reaktion lässt sich als passiv bezeichnen" (104). Solche Verdikte über Verspätungen und Verzögerungen finden sich öfter. Sie sind einem modernisierungstheoretisch infizierten Geschichtsbild verpflichtet, da sie normative Vorstellungen einer historischen Entwicklung transportieren, tatsächlich aber wenig helfen, um dem zeitgenössischen Raumwissen gerecht zu werden. Man kann daher feststellen, dass der Verfasser eine wichtige Frage angestoßen hat und sie - zumindest im Ansatz - mit überzeugenden und auch innovativen Mitteln angegangen ist. Weniger überzeugende Aspekte dieser Arbeit lassen daher noch genug Möglichkeiten für andere, um diesen viel versprechenden Weg weiterzugehen.
Achim Landwehr