Natali Stegmann: Kriegsdeutungen - Staatsgründungen - Sozialpolitik. Der Helden- und Opferdiskurs in der Tschechoslowakei 1918-1948, München: Oldenbourg 2009, 304 S., ISBN 978-3-486-59086-9, EUR 44,80
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Die Tschechoslowakei war in den beiden Weltkriegen kein eigenständiger Akteur, doch deren Auswirkungen auf das nationale Selbstbild sowie auf die politische und soziale Ordnung waren erheblich. Um diese Wirkungen näher zu ergründen, wartet die als Habilitationsschrift an der Universität Tübingen angenommene Arbeit von Natali Stegmann mit einem innovativen Ansatz auf: Kriegsdeutungen und Staats(neu-)gründungen werden nicht nur, neueren kulturgeschichtlichen und konstruktivistischen Ansätzen folgend, über Diskurse und symbolische Praktiken vermittelt, sondern auch über sozialstaatliche Institutionalisierungsprozesse, konkret am Beispiel der Kriegsgeschädigtenfürsorge. Damit setzt Stegmann einen wichtigen Akzent in der Geschichtsschreibung zu Mittel- und Osteuropa in der Zwischenkriegszeit: Die Nation war nicht alleiniges Paradigma, vielmehr stand die nationale mit der sozialen Frage in enger Wechselwirkung. Für die Tschechoslowakei kam als besonderer Umstand hinzu, dass über sozialpolitische Leistungen auch Akzeptanz für die demokratische Ausformung des neu gegründeten Staats erzielt werden sollte.
Dies ist die Perspektive, aus der Stegmann eine Neuinterpretation der tschechoslowakischen Geschichte zwischen 1918 und 1948 vornimmt und eine Reihe wichtiger Befunde präsentieren kann. Überzeugend veranschaulicht wird der Zusammenhang von Kriegsdeutungen, Staatsgründung und Sozialpolitik in Gestalt des Legionärs. Im Gegensatz zu den tschechischen und slowakischen Soldaten in den habsburgischen Armeeverbänden ließen sich die Mitglieder der im Exil aufgestellten Legionen als aktive Kämpfer für eine unabhängige und demokratische Tschechoslowakei stilisieren. In der Zwischenkriegszeit galten die Legionäre als staatsbürgerliche Vorbilder. Unterstützt wurde der "Legionärsmythos" (36) durch eine spezielle Legionärsgesetzgebung, die Privilegien im Staatsdienst, bei der Bodenreform oder im Rahmen der Sozialfürsorge gewährte. Kritisch beobachtet Stegmann, dass Frauen bei einem solchen über militärische Verdienste definierten Ideal von Staatsbürgerschaft strukturell ausgegrenzt wurden. Parallel zu partizipatorischen Ansätzen bestanden somit in der tschechoslowakischen Sozialpolitik der Zwischenkriegszeit paternalistische Vorstellungen fort.
Ausführlich berücksichtigt wird die Situation der Slowaken, Deutschen und Magyaren in der Tschechoslowakei. Dabei wendet sich Stegmann dagegen, "im Vorgriff auf das spätere Auseinanderfallen des tschechischen und slowakischen Territoriums zu unterstellen, die tschechoslowakische Gründungsidee sei weniger gerechtfertigt als die anderer Nationalstaaten" (39). Vielmehr habe vor allem die deutsche Bevölkerung bei der Kriegsgeschädigtenfürsorge die im tschechoslowakischen Staatsbürgerkonzept inbegriffenen sozialen Rechte eingefordert. Dominant blieb aber die Wahrnehmung als Kriegsverlierer und nationale Minderheit; der in der Tschechoslowakei zugestandene Minderheitenstatus war aus deutscher Sicht "nicht ein Recht, sondern eine Herabsetzung" (111). Dies deckte sich mit dem zeitgenössischen europäischen Diskurs über Friedensordnung und Minderheitenschutz, in dem, wie Stegmann treffend bemerkt, "die pure Existenz von Minderheiten zum Problem" geriet (202). Auf diesem Befund bauen Überlegungen zu Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Das tschechoslowakische Staatsbürgerschaftskonzept von 1945 war in seinem Verständnis von Nationalität demnach nicht rassistisch, sondern moralisch aufgeladen: Entscheidend war das Verhalten während des Zweiten Weltkriegs. Deutsche und Magyaren galten gemeinhin als "Feinde" der Tschechoslowakei, verloren ihre frühere Staatsbürgerschaft oder waren von Leistungen der Kriegsgeschädigtenfürsorge ausgeschlossen, doch war durch individuelle Nachweise eine Rehabilitierung möglich. Insbesondere Frauen und Kindern sollten von der Nachsichtsregelung profitieren und bevölkerungspolitischen Zielsetzungen wie der Steigerung von Produktivität und Geburtenrate dienen.
Gegenüber diesen Ausführungen, die sich auf eine geschickte Verzahnung von Quellenmaterial, neuester Forschungsliteratur und Theoriediskussion stützen, fallen die Kapitel, die den einzelnen sozialpolitischen Aushandlungsprozessen gewidmet sind, etwas ab. Zwar zeichnet Stegmann die Auseinandersetzungen um Lizenzen für Kinos und Kioske oder um Anstellungen im Staatsdienst anschaulich nach, doch indem sie hier fast ausschließlich auf Akten des Ministeriums für Sozialfürsorge und Veröffentlichungen der Kriegsgeschädigtenorganisationen zurückgreift, gerät die Darstellung mitunter allzu binnenperspektivisch. Eine stärkere Kontextualisierung wäre wünschenswert gewesen - einerseits mit konkurrierenden gesellschaftlichen Diskursen von Armut und Not sowie daraus resultierenden sozialpolitischen Ansprüchen, andererseits mit dem vielfältigen politisch-weltanschaulichen Spektrum in der demokratischen Tschechoslowakei. So konstatiert Stegmann zwar, dass die Legionäre parteipolitisch unterschiedliche Wege gingen, aber welche Auswirkungen dies sowohl auf Selbstbild und Habitus der Legionäre als auch auf Praktiken und Repräsentationen der jeweiligen Parteien hatte, bleibt unbeantwortet.
Sehr zu Recht erhebt Stegmann die Forderung, mit einem kulturwissenschaftlichen Blick etablierte Entwicklungslogiken und Gewissheiten zu hinterfragen. Die Umsetzung erfolgt allerdings nicht immer konsequent. Augenfällig wird dies etwa beim Topos der "kleinen Nation", den Staatspräsident Tomÿš Garrigue Masaryk gerne bemühte. Während Stegmann hierin zunächst die "Verbindung von Macht und Familiarität" und die Selbststilisierung einer paternalistischen Herrschaft erkennt (72 f.), so gerät ihr dieser Topos unvermittelt zu einer essentialistischen Einflussgröße, wenn sie bei den Briefen Kriegsgeschädigter an die Behörden feststellt, diese "bewegten sich in dem engen Kommunikationsnetz der 'kleinen Nation', in welcher ein einzelner Mensch durchaus in direkten Kontakt zu einer zentralstaatlichen Institution treten konnte" (135). Nicht nur stellten persönliche Anschreiben an Behörden kein tschechoslowakisches Spezifikum dar, sondern war auch die hier suggerierte Intimität bei einer Bevölkerungszahl von (1930) rund 13 Millionen sicherlich überzogen, selbst wenn man die Ausbildung ethnischer Teilöffentlichkeiten in Rechnung stellen mag.
Ungeachtet solcher methodischer Ungenauigkeiten bietet Stegmann in weiten Teilen ihres Buches eine geistreiche und anregende, ja sogar aufregende Lektüre, die für künftige Forschungen zur Geschichte der Tschechoslowakei Maßstäbe setzt.
Stephanie Zloch