Wilfried Hartmann: Karl der Große (= Kohlhammer Urban Taschenbücher; Bd. 643), Stuttgart: W. Kohlhammer 2010, 333 S., ISBN 978-3-17-018068-0, EUR 19,90
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Noch ein Buch über Karl den Großen? Ja, noch ein Buch über Karl den Großen! Verfasst hat es Wilfried Hartmann, emeritierter Professor der Eberhard Karls Universität Tübingen und aufgrund seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der karolingischen Geschichte ein ausgewiesener Kenner der Materie. Das Ergebnis entspricht mit gut 330 Seiten dem für die Reihe der Urban-Taschenbücher üblichen Umfang und bietet eher einen komprimierten Überblick als eine weit ausholende biographische Studie. Reihenkonform ist auch die Verwendung von Endnoten für die Belege, was die Handhabung erschwert, wobei die Belege selbst sehr präzise gehalten sind.
Nach einem knappen Vorwort, in dem Hartmann zurecht die beschränkten Möglichkeiten und die eng gesetzten Grenzen einer biographischen Herangehensweise an einen mittelalterlichen Herrscher hervorhebt, behandelt er sein Sujet in 17 meist kompakten Kapiteln (wenn man die Ausführungen zur Quellengrundlage, Quellenkritik und Literatur je als eigenes Kapitel zählt).
Im ersten Kapitel wendet sich Hartmann der "Herkunft" des großen Frankenherrschers zu (25-38). Er behandelt dabei recht ausführlich die frühen Arnulfinger, Karl Martell, Karlmann und Pippin, dessen Königtum - das erste eines Karolingers - ein eigenes Unterkapitel erhält. Im Folgenden (39-81) behandelt er Karls Leben anhand folgender Stationen: Geburt, Jugend, gemeinsame Herrschaftsjahre mit Karlmann (768-771), Ehe und Familie, Lebensführung, Tod und Begräbnis. Souverän wandelt Hartmann hier auf vertrautem Boden und liefert eine grundsolide biographische Annäherung an den viel beachteten König und Kaiser. Letzteres gilt nicht für die Quellen über die Zeit vor Karls Thronbesteigung: So findet Karl beispielsweise in nur zwei Königsdiplomen Pippins überhaupt Erwähnung. [1] Als mögliches Geburtsjahr Karls - eine in der Forschung viel und kontrovers diskutierte Frage - scheint Hartmann mit Matthias Becher das Jahr 748 zu bevorzugen.
Diesem chronologisch gegliederten ersten Teil seines Werkes lässt Hartmann sodann systematisch geordnete Kapitel folgen (46-260), die sich Karl als Eroberer, seiner Herrschaft in weltlicher und geistlicher Hinsicht und dem Wirtschaftsleben zuwenden. Anschaulich und kompakt schildert er in diesen Abschnitten die Regierungs- und Verwaltungstätigkeit im fränkischen Großreich. Dabei wird wiederholt deutlich, in wie vielen Bereichen Karls Herrschaft deutliche Spuren hinterlassen hat, sei es in Bezug auf das Verhältnis zum Papsttum, in Fragen der Missionstätigkeit oder der kirchlichen Gesetzgebung und Organisation. Insbesondere diese Passagen profitieren von Hartmanns eigener Forschungsleistung. Im Kapitel "Bildung und Wissenschaft" (177-205) legt er dar, in welch grundlegender Weise Karl und seine "wissenschaftlichen Berater" - die Hartmann in gebotener Kürze vorstellt - eine kirchliche Bildungsreform auf den Weg brachten. In der seit Jahrzehnten diskutierten Frage, mit welchem Etikett diese Bemühungen um die Verbesserung des Bildungsstandes zu versehen seien, spricht sich Hartmann mit überzeugenden Gründen für die "Bildungsreform" aus (202-205), ohne die Begrifflichkeit "karolingische Renaissance" in Gänze abzulehnen. [2]
Die folgenden Kapitel behandeln Karls Kaisertum, das Frankenreich und seine Nachbarn, die Nachfolgeregelung, die Lage im Frankenreich nach Karls Tod sowie schließlich das Nachleben des Herrschers. Die Nachricht bei Einhart (c. 28), nach der Karl trotz des hohen Feiertages den Petersdom in Rom am 25. Dezember 800 nicht betreten hätte, wäre er von der Absicht des Papstes, ihn zum Kaiser zu krönen, in Kenntnis gesetzt worden, will Hartmann gegen Peter Classen nicht als "Bescheidenheitstopos" (213) werten. Dennoch ist für Hartmann "die Handlung während des Weihnachtsgottesdienstes nicht so unerwartet eingetreten" (214). Im Abschnitt zur Lage im Frankenreich nach 814 greift Hartmann bis in die Spätzeit der Herrschaft Ludwigs des Frommen aus, der nach seiner Meinung ein riesiges Frankenreich geerbt hatte, dessen Expansion "an ihr Ende gelangt war" und dessen "Verwaltung [...] vor fast unüberwindlichen Schwierigkeiten stand" (242). Insbesondere im Innern des Reichs hatte Ludwig eine enorm problematische Situation geerbt, der er mit dem Austausch des Führungspersonals Herr werden wollte (oder gar musste?) - ein Keimboden für die Aufstände der kaiserlichen Söhne und ehemaliger Gefolgsleute ab 829/30.
Das Nachleben Karls umfasste unter anderem die Heranziehung des großen Frankenkaisers als (angeblicher) Vorfahr - ein (Wunsch-)Denken, das die Grenzen Frankreichs und Deutschlands überschritt. Abschließend thematisiert Hartmann die Vorbildfunktion Karls des Großen als (erster) Kreuzfahrer und Idealherrscher des Mittelalters schlechthin, dem schon zu Lebzeiten der Beiname magnus verliehen wurde (247-260).
Nicht unproblematisch erscheinen mir die Aussagen Hartmanns zur Urkundenproduktion. Ein Beispiel: Auf Seite 20 zählt er vollkommen zutreffend auf, dass sich allerhöchstens 164 echte Diplome Karls des Großen erhalten haben, während wir nur von 30 echten Urkunden Pippins aus seinen 17 Regierungsjahren Kenntnis besitzen. Folgen wir Hartmanns Angaben, ergibt das einen jährlichen Urkundenausstoß (wohlgemerkt: der erhaltenen, mutmaßlich echten Diplome!) von etwa 3, 6 für Karl und 1, 8 für Pippin. Hartmann folgert daraus eine ganz erhebliche Steigerung der Urkundenproduktion unter Karl dem Großen gegenüber dem Vorgänger (wiederum 20), ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass weitere Faktoren die Erhaltung mittelalterlicher Herrscherdiplome beeinflussen, wie etwa der schiere Überlieferungszufall oder - in diesem Falle gewichtiger - die enorme Bedeutung, die der Herrschaft Karls des Großen bereits zu Lebzeiten beziehungsweise kurz nach seinem Tod beigemessen wurde. Vereinfacht: Eine Urkunde Karls des Großen dürfte per se eine höhere "Überlebenschance" gehabt haben. Aber was macht man dann mit der Schlussfolgerung Hartmanns? Und was ergibt sich aus Hartmanns Feststellung, dass aus der gemeinsamen Regierungszeit Karlmanns und Karls (768-771) zwölf Diplome des Erstgenannten, aber "nur" neun des Zweitgenannten erhalten sind (46)?
Wiederholt arbeitet sich Hartmann an den maßgeblichen Werken von Matthias Becher und Rosamund McKitterick ab; [3] einige seiner Angriffe verlaufen meines Erachtens aber ins Leere oder lassen, zumal die mit den Verästelungen des Forschungsstandes nicht vertraute Leserschaft, mitunter ratlos zurück. [4] In der Frage der Entstehung und Datierung des Constitutum Constantini schließt sich Hartmann den nicht unumstrittenen Thesen Johannes Frieds [6] an - die Diskussion dieses Themenkomplexes wird die Forschung aber wohl weiter beschäftigen. Stellt Hartmann zu Beginn die vorhandenen Quellen in zusammenfassender Form vor, so orientiert sich der Erzählfaden vielfach doch recht deutlich an Einharts Vita Karoli, deren Entstehungszeit Hartmann offensichtlich mit Matthias Tischler [7] in den Jahren 827/828 verortet. Damit setzt Hartmann auf die traditionelle Karte und sondert sich grundlegend von McKittericks wichtigem Buch ab, das allerdings in Teilen wie die Aneinanderreihung von Einzelstudien wirkt. Aufgrund des oben genannten Zuschnitts bleibt das von Hartmann vorgeschobene Kapitel zu "Quellen und Quellenkritik" etwas im luftleeren Raum hängen.
Das mit "Schluss" betitelte Fazit von nicht einmal einer ganzen Druckseite kommt über einige Allgemeinplätze zur historischen Bedeutung Karls des Großen nicht hinaus. Am Ende finden sich nützliche Stammtafeln, Abbildungen, Literaturhinweise und ein Personenregister.
Das Fazit: Noch ein Buch über Karl den Großen? Ja. Wilfried Hartmann hat ein straffes und die wichtigsten Bereiche von Karls Herrschaft bündelndes Taschenbuch verfasst. In umstrittenen Forschungsfragen positioniert sich Hartmann eindeutig. Jedoch erfordert eine intensivere Beschäftigung mit dem bekanntesten Frankenherrscher weiterhin die gleichzeitige Konsultation älterer Studien.
Anmerkungen:
[1] D Kar. I, Nr. 14, 20, Z. 9 f. erwähnt Karl in merowingischer Tradition als vir illuster, womit wohl zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass Pippins Sohn zur eigenständigen Regierungshandlung fähig und somit mündig war. Das Diplom ist auf den 10. Juni 760 datiert und nicht, wie Hartmann Seite 44 schreibt, auf den 1. Juni.
[2] Zur Forschungsdiskussion vgl. zuletzt Johannes Laudage: Die karolingische Renaissance und Bildungsreform, in: Christoph Kann (Hrsg.): Isti moderni. Erneuerungskonzepte und Erneuerungskonflikte in Mittelalter und Renaissance (= Studia humaniora; 43), Düsseldorf 2009, 29-71.
[3] Vgl. Matthias Becher: Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen (= Vorträge und Forschungen; 39), Sigmaringen 1993; ders.: Karl der Große (= Beck'sche Reihe 2120), 5. aktualisierte Auflage München 2007; Rosamund McKitterick: Karl der Große (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2008.
[4] Als ein Beispiel Seite 20 "... das kleine Büchlein von Matthias Becher, das angesichts des sehr beschränkten Raums viel an Information bietet, wenn es auch nicht frei von Einseitigkeiten ist." - Hier wäre es meines Erachtens angebracht, auf zumindest einige der monierten Einseitigkeiten einzugehen.
[5] Vgl. Johannes Fried: Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning. With a Contribution by Wolfram Brandes: "The Satraps of Constantine" (= Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr.; 3), Berlin/ New York 2007.
[6] Vgl. Matthias Tischler: Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption (= Schriften der Monumenta Germaniae Historica; 48, 1-2), Hannover 2001.
Matthias Schrör