Harm Klueting: Luther und die Neuzeit, Darmstadt: Primus Verlag 2011, 224 S., ISBN 978-3-89678-857-3, EUR 24,90
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Was können katholische Kirchenhistoriker zur 'Luther-Dekade 2008-2017' beitragen? Mit Reflexionen zu dieser Frage eröffnet der Kölner Historiker und katholische Theologe Harm Klueting sein Buch "Luther und die Neuzeit" in Form eines knappen Essays über kulturprotestantische Lutherdeutungen und aus welchen Gründen sie abzulehnen sind (7-13). Mit Bezug auf einen Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anlässlich des Reformationstages 2009 findet der Verfasser nach pointierter Analyse der Hauptthesen deutliche Worte: Heike "Schmolls Darlegungen sind nicht nur sachlich zu kritisieren und als in den Grundaussagen falsch zurückzuweisen; sie reihen sich auch ein in die fragwürdige Tradition der Lutherfeiern und Reformationsjubiläen - 1617, 1717, 1817, 1917 - und der Instrumentalisierung Luthers als des siegreichen Kämpfers gegen mittelalterlichen Aberglauben und kirchlichen Machtanspruch" (12).
Freilich weiß der Verfasser, dass diese Gefahr einer Instrumentalisierung Luthers im Hinblick auf 2017 von protestantischer Seite sehr wohl wahrgenommen wird, und so würdigt er die Bemühungen des Göttinger Historikers Hartmut Lehmann, den Wittenberger Reformator im Anschluss an die katholische Lutherforschung als Reformkatholik wahrzunehmen, "der auf tragische Weise mit seinem Anliegen gescheitert war, weil ihn die katholische Hierarchie [...] aus der Kirche vertrieben hatte" (13). Im Anschluss an Lehmann, sieht Klueting Möglichkeiten, auch von katholischer Seite einen Beitrag zum Lutherjubiläum zu leisten, zumal "die römisch-katholische Kirche in ihrer lehramtlichen Christuszentrierung der Reformation näher als ein freisinniger Protestantismus" steht (8).
Unabhängig davon, ob man Kluetings Polemik gegenüber dem Kulturprotestantismus zustimmt oder nicht - angesichts der Tatsache, dass die Adressaten der Kritik in polemischer Zuspitzung nicht ungeübt sind, sollte man dem Verfasser seine beißenden Worte nicht übel nehmen.
Die skizzierte Einleitung dient der Hinführung zum eigentlichen Thema, denn bereits hier denkt Klueting über die Schwierigkeiten nach, den Beginn der Neuzeit als klaren Einschnitt zu beschreiben und inhaltlich zu definieren. Im ersten Kapitel folgt dann eine systematische Reflexion über den "undeutlichen Anfang der Neuzeit" (14-24). Besonderer Fokus liegt dabei auf der europäischen Dimension und der Beobachtung, dass für verschiedene Länder unterschiedliche Daten zu nennen wären. Klueting referiert exemplarisch mehrere Positionen, die in ihren Datierungen um bis zu 250 Jahre auseinanderliegen (14-16), während andere Fachleute sich gar nicht auf ein Datum festlegen mit dem Hinweis, der Umbruch bestünde aus einem sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Reformprozess (17-19).
Letzteres bestimmt die Beschreibung der lutherischen Reformation im zweiten Kapitel (25-49). Die Wittenberger Ereignisse werden im Kontext katholischer Reformbewegungen interpretiert, deren Beginn der Verfasser im Jahre 1348, "spätestens aber mit den Reformbewegungen" des 15. Jahrhunderts sieht (26). Sehr hilfreich sind in diesem Zusammenhang begriffliche Differenzierungen. Beispielsweise werden 'Konfessionalisierung', 'Konfessionsbildung', 'Gegenreformation' und 'Reform' knapp definiert und voneinander abgegrenzt, um in den Erörterungen präzise argumentieren zu können (25f). Klueting ist ein hervorragender Kenner der aktuellen Forschungsliteratur zur Frühen Neuzeit. Sehr übersichtlich und gut lesbar werden Forschungskontroversen dargestellt und ausgewertet. Für die Einordnung Luthers in den katholischen Reformprozess dienen die Ausführungen des Erlanger Kirchenhistorikers Berndt Hamm sowie des kürzlich verstorbenen Heidelberger Gelehrten Gottfried Seebaß als Schablonen für den eigenen Argumentationsgang.
Das dritte Kapitel ist überschrieben mit "Das reformatorische Europa" (50-122). Der Verfasser präsentiert hier eine gut gegliederte, auch für das Laienpublikum verständliche reformationsgeschichtliche Darstellung. Neben den Vorgängen im Reich, Zürich und Genf werden die Entwicklungen in den meisten europäischen Ländern bis hin nach Skandinavien und dem Baltikum ausführlich dargestellt, ohne allerdings näheren Bezug auf das Hauptthema des Buches - der Frage nach dem Beginn der Neuzeit und Luthers Rolle darin - zu nehmen.
Auch im vierten Kapitel "Das katholische Europa" (123-178) finden sich kaum Referenzen zur anfänglichen Fragestellung. Stattdessen schreibt Klueting eine wiederum gut lesbare und informative Darstellung des Konzils von Trient und katholischer Reformbestrebungen in den einzelnen europäischen Ländern.
Erst im abschließenden fünften Kapitel greift Klueting die Eingangsfrage wieder auf (179-190). Gegenüber "einer exklusiv protestantischen und nur auf Deutschland konzentrierten Engführung", die Luther und die Reformation als 'Beginn der Neuzeit' erscheinen lassen, gibt der Verfasser zu bedenken, dass es erstens einen langanhaltenden Prozess katholischer Reformen gab, in die das Wirken Luthers einzuordnen ist, dass zweitens die europäische Perspektive zu berücksichtigen ist, dass drittens Neuerungen des 13.-15 Jahrhunderts ("Entstehung der Theologie als Wissenschaft", "säkulare Politik- und Gesellschaftskonzeptionen eines Marsilius von Padua oder eines Wilhelm von Ockham", "Auflösung des klerikalen Bildungsmonopols" u.a.) für die Analyse nicht ausgeblendet werden dürfen, und dass viertens Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Reformation in Rechnung zu stellen sind (179). Klueting sieht noch ein weiteres Problem: Mittelalter und Neuzeit werden häufig über Wertvorstellungen definiert. Dies sei aber nicht ratsam: "Neuzeit ist nicht nur mit Aufklärung, Demokratie, Emanzipation, Freiheit, Individualisierung, Beachtung der Menschenrechte, Rationalität oder Toleranz gleichzusetzen. Zur Neuzeit gehören auch Genozid, Intoleranz, Irrationalismus, Massenvernichtungswaffen, Rassismus oder Totalitarismus. Auschwitz und Hiroschima sind Neuzeit" (180). Es ist eine Stärke des Buches, gängige Definitionen von Neuzeit in ihrer "Perspektivgebundenheit der Beurteilung" zu entlarven. Klueting plädiert zu Recht für eine Vielfalt von Sichtweisen in der Debatte um die Einordnung von Luther und Reformation in die Frage nach dem Beginn der Neuzeit.
Als katholischer Beitrag zur Lutherdekade ist das Buch von Klueting zu würdigen, weil der Verfasser die Reformation zum einen synchron in europäischer Perspektive und zum anderen diachron im Kontext langanhaltender Reformprozesse versteht. Damit wird die konfessionelle Engführung, zu der Lutherforscher bisweilen neigen, zu Recht in Frage gestellt, weil auch Katholiken, Reformierte und sogar die Täufer zu den gesellschaftlichen Umwälzungen des 16. Jahrhunderts beigetragen haben, ohne die eine Verhältnisbestimmung von 'Luther' und 'Neuzeit' kaum gelingen kann.
Wer an der im Titel des Buches angedeuteten thematischen Engführung interessiert ist, wird rasch mit der Lektüre fertig sein. Die sehr ausführlichen Darlegungen der Kapitel 2-4 (25-178) sind für die einleitenden und abschließenden Reflexionen unerheblich. Sie sind zwar eine gute Darstellung europäischer Reformationsgeschichte, tragen aber kaum etwas zum eigentlichen Thema bei, sodass die Ausführungen zur Verhältnisbestimmung von Luther und der Neuzeit weniger als 1/6 des Umfangs ausmachen. Dies ist zweifellos eine Schwäche des Buches, weil der Titel anderes verspricht. Dennoch ist Klueting ein ausgewiesener Kenner der Epoche, der sich durch begriffliche Präzision, klare Gliederung und einen gut lesbaren Schreibstil auszeichnet.
Tobias Sarx