Konrad Hirschler: The written word in the medieval Arabic lands. A social and cultural history of reading practices, Edinburgh: Edinburgh University Press 2011, VI + 234 S., ISBN 978-0-7486-4256-4 , GBP 65,00
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Konrad Hirschler: The written word in the medieval Arabic lands. A social and cultural history of reading practices, Edinburgh: Edinburgh University Press 2011
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Eine Kulturgeschichte ist immer auch Mediengeschichte. Eine Kombination mit Sozialgeschichte verspricht die Anschaulichkeit, die einem allgemein interessierten, weltoffenen Publikum Zugang zu bisher fremden Welten ermöglicht. Vor allem elektrisiert ein solcher Titel eher medientheoretisch Interessierte denn islamwissenschaftlich Vorgebildete wie die Rezensentin. Die über Jahrhunderte und Kontinente hinweg vitale Manuskriptkultur in arabischer Schrift ist in der heute nicht mehr hintergehbaren transkulturellen Perspektive ein so aktueller wie faszinierender Forschungsgegenstand.
Entsprechend attraktiv klingen die Eröffnungssätze von Umschlag und Einleitung nach planetarischer Perspektive: "Medieval Islamic societies belonged to the most bookish cultures of their period" und "Societies within the Islamic world [...] belonged in the medieval era to the world's most bookish societies"(1). Zudem lässt die kontinuierliche Verwendung des Ausdrucks "writerly culture" in der Materie etwas Belesenere eine Fortschreibung von Toorawa erwarten. Das würde den Anschluss eines weiteren Kapitels aus der Domäne der traditionellen Orientalistik an eine medienwissenschaftliche Diskussion bedeuten. Inspiriert von den wegweisenden Arbeiten von Havelok und Ong hatte Toorawa den Begriff der "writerly culture" geprägt, um damit die Entfaltung des Dispositivs Schrift, in Toorawas Vokabular "changes in mental and social structures", im literarischen Leben Bagdads im 9. Jahrhunderts zu beschreiben. [1]
Allein, die "writerly culture" ist zwar explizit geborgt (1), bleibt aber ohne weitere Erläuterung. Es dauert eine Zeit, zu sortieren, wann, wie hier, nur Worte geliehen sind und wann es sich um konzeptionell folgenreiche Begriffe handelt. Das Buch ist so ehrgeizig wie medientheoretisch anspruchslos. Dafür gibt sein kollegial verbindlich formulierter, in der Sache offensiver Positivismus in seltener Klarheit Aufschluss über die Anschlussprobleme interdisziplinären und transkulturellen Arbeitens.
Methode hat dabei die Art, wie die systemischen Anläufe von Kollegen zurückgenommen werden, die das Terrain der ayyubidisch-mamlukischen Literatur bereits kartiert haben. Die These von der "drastic reconfiguration of cultural practices" (5) ist nur zu haben um den Preis einer drastischen, wiewohl stringenten Komplexitätsreduktion des bisher zum Thema Geschriebenen. [2] Paradoxien der Ausdifferenzierung verschwinden in einer langfristigen Linearisierung. Ihr oberflächlichstes Symptom sind die ausschließlich quantitativen Attribute - "rise" und "growth", "significantly increased" und "expanded" oder "gained pace" (22) - die die Doppelthese von der Textualisierung und Popularisierung und die zur "writerly culture" abgetragenen literarische Blüte der Epoche begleiten. Was im ersten Anlauf nur aggressiv redundante Redaktion zweiter Hand zu sein scheint, entpuppt sich als keinesfalls zufälliges Symptom des Ansatzes.
Aber der Reihe nach: Titel und Text sind nur bedingt deckungsgleich.
Keinesfalls geht es, wie man zunächst vermuten möchte, um eine Kulturgeschichte des Lesens von arabischen und anderen Texten im Mittelalter. Es geht ausschließlich um das Leseverhalten eines ganz bestimmten städtischen Milieus, dazu noch um "aspects [Hv.D.K.] of this history of reading during the Middle Period in the Syrian and Egyptian lands" (3). Wobei - für Nichtexperten - diese "Middle Period" vom frühen 11. bis zum frühen 16. Jahrhundert reicht (2). Dieser Zeitraum verläuft parallel zum europäischen Hoch- und Spätmittelalter, was in medienhistorischer Periodisierung wegen der vermeintlich grundstürzenden Einführung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert noch die Frühe Neuzeit einschließt. Für diese 500 Jahre bleibt der gesamte Schriftgebrauch des Alltags explizit ausgespart: "to the exclusion of pragmatic literacy [...] in fields such as administration, business life and legal proceedings"(5). Ebenfalls unbelastet von der gesamten Literatur der traditionellerweise gebildeten Stände, soweit sich diese nicht als Quellen verwerten lassen, soll hier trotzdem nichts weniger als eine "first outline of long term developments of this increasingly writerly culture" (3) gegeben werden.
Erklärtes Ziel der Untersuchung ist die Akzentuierung der "active role and agency of non-scholarly groups"(28) und "to move the study of cultural practices as a means of integrating society away from the focus on the religious scholars and their purportedly instrumental role"(28). Das Interesse gilt zunächst den unter dem Etikett "craftsmen and traders" zusammengefassten Nicht-Ulama, die bald stellvertretend, bald allein die "broader" oder "wider sections of the population" darstellen und ab dem 5. Kapitel dann, wiewohl in Anführungszeichen gesetzt, zur "urban middle class"(172) oder zu "middle classes"(173, 175) mutieren und schließlich in der kurzen Conclusio zum "main agent" (197) der Entwicklung promoviert werden. Auf diese Pointe hin ist das Material in der Abfolge der Kapitel organisiert. Abgesehen vom tatsächlichen Stand der Diskussion [3] hat diese Akzentuierung zwei Manöver zur Voraussetzung (a) die Ulama als homogenes Soziotop und (b) die Binarisierung der "einfachen" Leute unter Ausblendung des Rests der Gesellschaft. Entlang dieser Naht wird dann eine kapitelweise verlaufende Evolution der "reading practices" choreographiert, die vom "aural reading", womit die Teilnahme an öffentlicher Lesungen gemeint ist (Kapitel 2), zum Lesen lernen (Kapitel 3), zur Verfügbarkeit von Büchern in öffentlichen Bibliotheken (Kapitel 4) und schließlich zu einer populären Literatur (Kapitel 5) führt.
Aufgeboten wird ein reiches Spektrum verschiedenartigster Quellen, welches zu bewerten die Expertise der auf die Epoche spezialisierten Fachkollegen erfordert. Diese werden auch über die Fachkritik vorwegnehmende Einschränkung, viel von dem, was nun folge, sei "akin to ulamology" (28) zu schmunzeln wissen. Chronologisch angeordnet, mit Schwerpunkt im Damaskus des 12. und dem Cairo des 14. Jahrhunderts, was der Verlagerung des Machtzentrums in der Region entspricht, zusammen mit der ständigen Wiederholung der Doppelthese von der Textualisierung und Popularisierung entsteht für den eiligen Leser ein Pastiche von Geschichte.
In weniger absatzorientierten, allein auf die Diskussion unter Kollegen zielenden Zeiten hätte der Band "Materialien zu ... " geheißen. Diesem Titel hätte man auch den jeden Nichtexperten abschreckenden Apparat nachsehen mögen, der in Endnoten und dann meist pro Absatz kryptisch kurze Literaturangaben zusammenfasst. Mit dem ständigen Zurückblättern zum Text und anschließendem Weiterblättern zur Bibliographie zerfranst jeder rote Faden gründlich.
Geht man der wachsenden Irritation darüber auf den Grund, dass das jedenfalls den Laien beeindruckend reichhaltige Quellenmaterial lediglich als Steinbruch von Informationen dient, eigentümlicherweise aber gerade nicht als integraler Bestandteil der beschworenen Entwicklung der Textualisierung verstanden wird, dann kommt der aporetische Treiber, genauer, die fetischistische Spaltung, in den Blick, die auch diesem Projekt zugrunde liegt.
Für den hartnäckigen Leser sind mit "written text" und "reading" im Nachhinein in nuce die elementaren Formen eines Programms benannt. Ihr Verhältnis ist im prägnanten Sinn Vor-schrift. Mithin sind die Beschränkung auf die Rezeptionsseite und das Lesen als Praxis mehr als nur ein modisches Freistellungsmerkmal. Auch ihr Komplement "written word", unter das als Platzhalter durchgängig Texte aller Art subsumiert werden, ist mehr als eine Metonymie unter anderen. Sie ist weder schrift- noch kulturneutral. Solange im geschriebenen Wort das Abbild des gesprochenen Worts gesehen wird, dessen "Verfallsgeschichte" aber nachhaltig unerzählbar bleibt, weil Fata Morgana eben der Schrift, die sie angeblich verdrängt, bleibt die Schrift selbst im toten Winkel. Paradoxerweise gerade dann, wenn, wie im vorliegenden Fall, ein Kapitel ihrer "Erfolgsgeschichte" verhandelt wird. Konsequenterweise thematisiert das Grundlagenkapitel denn auch Textualisierung im Gegensatz zu Oralität. Die strategischen Folgen der Transparenzfiktion des lateinischen Alphabets sind der systematische Ausschluss einer ganzen Serie: der Materialität der Schrift, des Eigensinns des Geschriebenen, der Literatur als vom Aufschreibesystem generierte, soziosymbolische Institution und nicht zuletzt der Textualität der Quellen. Umgekehrt hat die Option für Lesen und die vermeintlich noch "oral" strukturierten, weil des Lesens unkundigen, daher "einfachen" Leute in dieser Auffassung von Schrift ihren systematischen Ort.
Die Verankerung des gesamten Projekts im lateinischen Alphabets zeigt sich unfreiwillig im Kapitel "Lesen lernen", wo sie sich an der arabischen Schrift bricht. Als besondere Herausforderung arabischer Texte wird die - emisch elegante, weil ökonomische - unvollständige Vokalisierung als Defizit hervorgehoben (92, 95f). Sie ist für den "native speaker" einer semitischen Sprache in aller Regel redundant. Hier besteht das Wort als lexematische Einheit - damit für die Worterkennung, vulgo Lesen, entscheidend - aus einer Sequenz von Konsonanten. Ihre Mobilisierung durch Vokale erfolgt nach wenigen, damit vorhersehbaren Mustern und ergibt sich aus dem Kontext. Defizitär ist allein die auf eine grundlegend andere Morphologie unreflektiert übertragene Worterkennungsstrategie. [3] Nur indoeuropäische Sprachen differenzieren lexematisch über Vokale (Hand/Hund), daher die Vollvokalisierung, daher die Transparenzfiktion und die Auferstehung des gesprochenen Worts aus der Schrift.
In transkultureller Perspektive bleibt das Projekt in der Möbiusschleife der eigenkulturellen Intuitionen gefangen. Ein über die Grenzen der Fachs hinausgehendes, allgemeines Interesse an Selbstaufklärung durch die Auseinandersetzung mit in anderen Schriftsystemen verankerten kulturellen Optionen befriedigt das Buch daher nicht.
Anmerkungen:
[1] Shawkat M. Toorawa: Ibn Abi Tahir Tayfur and Arabic Writerly Culture. A Ninth-Century Bookman in Baghdad, London / New York 2005.
[2] Davon umstandslos überzeugen kann sich jeder des Deutschen mächtige Leser anhand der Einleitung und zwei Aufsätzen von Thomas Bauer und Stefan Leder im Sammelband: Die Mamluken. Studien zu ihrer Geschichte und Kultur, hrsg. von Stephan Conermann / Anja Pistor-Hatam, Hamburg 2003.
[3] "Man [wird] sich die Interdependenz zwischen Hoch- und Volkskultur gar nicht intensiv genug vorstellen können." Bauer in Conermann, ibid, 99.
[4] Rachel Hayes-Harb weist das Problem des Transfers in umgekehrter Richtung nach: Native Speakers of Arabic and ESL Texts: Evidence for the Transfer of Written Word Identification Processes in TESOL Quarterly Vol.40, No.2, June 2006, 321-339.
Dorothée Kreuzer