Fatima Sadiqi / Moha Ennaji (eds.): Women in the Middle East and North Africa. Agents of change (= UCLA Center for Middle East Development; 2), London / New York: Routledge 2011, XIII + 297 S., ISBN 978-0-415-57320-7, GBP 87,00
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Der Sammelband befasst sich mit der Frage, inwiefern Frauen aktiv an (1) sozialen, (2) politischen, (3) wirtschaftlichen und (4) kulturellen Veränderungen in den Ländern der MENA-Region teilhatten und -haben. Jedem dieser vier Bereiche ist ein eigener thematischer Block gewidmet, auf die sich die insgesamt 16 Texte verteilen.
Grundsätzlich gehen alle Artikel des Sammelbandes davon aus, dass Frauen ein entscheidender Anteil an vergangenen und gegenwärtigen gesellschaftlichen Änderungen in der MENA-Region zukommt. Methodisch folgen die verschiedenen Autorinnen und Autorenin ihren Beiträgen zum Beleg dieser These unterschiedlichen Arbeitsweisen. So nutzen einige Verfasserinnen und Verfasser sozialwissenschaftliche Ansätze im Rahmen längerer Feldforschungen (z.B. Kap. 12 "Women and language in Tunisia"), wohingegen andere die Diskursanalyse (Kap. 1 "The Veil") oder literaturwissenschaftliche Herangehensweisen (z.B. Kap. 3 "Assia Djebar and Malika Mokeddem") bevorzugen.
Zunächst geben die Herausgeberinnen dem Leser in der Einleitung einen gelungenen Überblick über die Entwicklung der Situation von Frauen innerhalb der MENA-Region. Sadiqi und Ennaji betonen den seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert spürbaren Einfluss von Schriftstellerinnen und Poetinnen, wobei sie gleichzeitig auf die klare Trennung der Agitationsbereiche Frau/Haus/Macht im Inneren und Mann/Straße/Markt/Autorität in der Öffentlichkeit hinweisen. Wirkliche Verschiebungen seien eigentlich erst durch den Eintritt der Frauen in den Arbeitsmarkt ab den 1950er Jahren erkennbar. Sadiqi und Ennaji machen ferner darauf aufmerksam, dass Frauen nicht nur Vorteile aus dieser Situation erwachsen, da sie z.B. bei Wirtschaftskrisen immer die ersten Opfer sind und schlechtere Anstellungen erhalten; hinzukommt eine steigende weibliche Armut, aber auch die durchaus schwierige Rolle von Frauen als Haushaltsvorstand. Die Einleitung geht dann auf das Thema der Diskriminierung von Frauen ein und stellt fest, dass diese nach wie vor gegeben ist und verhindert, dass Frauen ihr volles Potenzial entfalten. Als zentrale Ursache hierfür sehen die Herausgeberinnen die Familiengesetze in den Ländern der MENA-Region, da diese größtenteils die Benachteiligung des weiblichen Geschlechts kodifizieren. Abschließend wird in der Einleitung die These aufgestellt, dass die heute herrschende Genderungleichheit auch als Hemmschuh für den Fortschritt in der MENA-Region anzusehen sei.
In diesem Sinne steht der erste Teil des Sammelbandes mit vier Beiträgen unter dem Titel "Reconsidering the Foundations of Women, Islam, and Political Agency" (13-77). Gleich der erste Beitrag widmet sich dem wohl im Westen mit den meisten Vorurteilen behafteten Thema, wenn es um die Ungleichheit von Frauen in der islamischen Welt geht: der Verschleierung bzw. dem Kopftuch. In "The Veil: religious and historical foundations of the modern political discourse" (15-36) hinterfragt Nazli Fathi-Rizk am Beispiel Ägypten, welche Gründe zum vermehrten Tragen des Schleiers (hijab) heutzutage im Allgemeinen sowie konkret aus Sicht der Frauen führen. Dabei geht die Autorin zunächst auf die orthodoxe Haltung zum Thema hijab ein, bevor sie einzelne Etappen der ägyptischen Geschichte ab dem 19. Jahrhundert skizziert. Fathi-Rizk zeigt auf, dass sich aus historischer Perspektive verschiedene Konnotationen mit dem Thema Verschleierung ergeben. Eine erste wichtige Diskussion resultierte aus dem Zusammenstoß traditioneller Werte mit westlichen Vorstellungen im Zuge der Besetzung Ägyptens ab 1881; damals symbolisierte der Schleier für die eine Hälfte der Bevölkerung Tradition und islamische Werte, während die übrigen Muslime das Ablegen desselben als ein Zeichen für Modernität ansah. Auch für weitere Epochen der jüngeren ägyptischen Geschichte zeigt Fathi-Rizk den Symbolcharakter des hijab auf: unter Nasser bis 1967 ein Zeichen der Rückständigkeit, nach der Nakbah Ausdruck einer zunehmenden Reislamisierung, unter Mubarak ein soziales Agitationsmittel von oben als Reaktion auf Islamisten und als Symbol für den Erfolg von Frömmigkeit durch vermehrtes Auftreten von reichen Saudis in Ägypten. Nachdem die Autorin damit die politische Perspektive vorgestellt hat, präsentiert sie eine moderne Analyse von Koransuren zu weiblichen Bekleidungsnormen und kommt zu dem Ergebnis, dass sich hier keine eindeutige Basis im Koran findet, sondern die religiöse Fundierung für die Forderung nach dem Schleier allein auf Hadithen beruht. Diese Folgerung aus der modernen Koranexegese stützt Fathi-Rizk schließlich mit dem Hinweis auf die Gesamthistorie und die Tatsache, dass der Schleier/die Segregation der Frau kein ursächlich islamisches Phänomen ist, sondern vielmehr aus dem kulturellen Umfeld des Frühislam, also von dem Sassanidenreich und Byzanz, übernommen wurde. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass der hijab nicht von muslimischen Frauen als Zeichen der Unterdrückung bewertet wird, sondern dass sie damit in erster Line in Einklang mit dem islamischen Recht sein wollen.
Inwiefern sich das Zusammenwirken von Religion und Politik auf die Rolle der Frau in der Zivilgesellschaft und auf ihre Optionen, Führungspositionen einzunehmen, auswirkt, behandelt der zweite Buchabschnitt "Women's Leadership in Civil Society" (77-103). Anhand der Aktivitäten weiblicher NGOs in Marokko (Moha Ennaji, 79-89) und Palästina (Islah Jad, 89-103) zeigen die Autorinnen auf, wie unterschiedlich die Erfolge von weiblichen NGOs bedingt durch die jeweilige politische und religiöse Landessituation in der MENA-Region sind. So weist Ennaji nach, dass die NGOs in Marokko nicht nur konkret auf die Bedürfnisse der marokkanischen Frauen eingehen, sondern u.a. zur Familiengesetzreform (Moudawana) im Jahre 2004 beigetragen haben. Im Gegensatz dazu demonstriert Jad für Palästina das nahezu Scheitern erfolgreicher weiblicher NGO-Tätigkeit. Dies ist zum einen bedingt durch Zuweisung von Frauenorganisation z.B. an die PLO und zum anderen durch die politische Situation in Palästina, welche zu einer mangelnden Kommunikation von NGOs sowohl in den besetzen Gebieten als auch in der Diaspora beiträgt. Jad geht davon aus, dass viele weibliche NGOs in Palästina ihre Positionen nur durch Patronage erhalten haben und diese lediglich für eigene Interessen nutzen.
Inwieweit tragen Frauen zu Rechtsreformen bei bzw. fordern Änderungen im Familiengesetz? Mit dieser Frage befassen in dem dritten Abschnitt "Women and Legal Reform" (103-147) drei Beiträge. Valentine M. Moghadam beginnt ihren Artikel "Feminisim and Family Law in Iran: the struggle for women's economic citizenship in the Islamic Republic" (114-129) mit der Feststellung, dass seit Juni 2005 in Iran eine aktive und durch ihre öffentlichen Verlautbarungen nicht zu übersehenden Frauenbewegung existiert. (114) Nachdem die Autorin die "Eine-Millionen-Unterschriften-Kampagne" aus dem Jahr 2007 vorgestellt hat, die sich gegen die Einschränkungen weiblicher Rechte durch eine von der Regierung angestrebten Rechtsreform richtete, gibt sie dem Leser einen Abriss der Geschichte der iranischen Familiengesetzgebung seit 1979. Ausgehend von der These, wonach das patrilinear geprägte Familiengesetz Frauen u.a. wirtschaftliche Macht vorenthält und sie auf ihre familiäre Rolle beschränkt, stellt Mogahdam zentrale Kritikpunkte der Frauenbewegung an der gegenwärtigen iranischen Gesetzeslage vor. Hierzu zählt die Autorin das Mindestheiratsalter, die Zeitehe, Polygamie und die unbedingte Gehorsamspflicht von Frauen.
Part IV ["Women: Social, Cultural, Religious and Symbolic Change" (147-271)] bietet mit sechs Beiträgen den umfassendsten und facettenreichsten Abschnitt des Sammelbande Einen besonders interessanten Artikel liefert Thuwayba al Barwani ["Women, Education, and the Redefinition of Empowerment and Change in a Traditional Society: the case of Oman" (215-232)]. Hauptziel der Autorin ist es, am Beispiel des Oman falsche westliche Vorstellungen von der Lage der Frau in traditionellen arabischen Gesellschaften aufzuzeigen und darzustellen, dass Frauen durchaus Macht in den ihnen offenstehenden Lebensbereichen ausüben. Barwani betont zunächst, dass die klassischen Kritikthemen wie Kopftuch, Polygamie usw. insbesondere auf einer eurozentrischen Definition von Macht und Machterhalt beruhen, welche allerdings der Kultur und Geschichte der Region nicht entspricht. Anschließend befasst sich die Autorin mit der konkreten Entwicklung der Situation der Frauen im Oman insbesondere ab 1970, dem Jahr, in welchem die Regierung Reformen auf dem Gebiet des Erziehungswesens einleitete. Die Verfasserin weist nach, dass Frauen mittlerweile im Oman auf diesem Sektor besser vertreten sind als Männer und insgesamt auch höhere Qualifizierungen aufweisen. Auch im Gesundheitssektor sind eine sinkende Rate von Totgeburten und eine höhere Lebenserwartung von Frauen zu konstatieren. Zusammen mit den Reformen im Bildungsbereich bilden sie die Grundlage für die aktive Teilnahme von Frauen in der omanischen Gesellschaft. Somit belegt Barwani sehr überzeugend, dass sich Frauen im Oman nicht unbedingt entrechtet fühlen, zeigt allerdings auch auf, dass noch Verbesserungen möglich und wünschenswert sind.
Insgesamt bietet der vorliegende Sammelband einen hervorragenden und detaillierten Einblick in die Rolle der Frauen in verschiedenen Ländern der MENA-Region. Insbesondere die disziplinäre Vielfalt und die unterschiedlichen methodischen Ansätze tragen hierzu entscheiden bei, ohne die Lesbarkeit zu beeinträchtigen. "Women in the Middle East" richtet sich sowohl an Forscher, die einen Einblick in die Thematik erhalten wollen, als auch an Laien, die Aufklärung über die Situation der Frauen im Nahen Osten suchen.
Tonia Schüller