Elise Julien: Der Erste Weltkrieg (= Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014, 151 S., ISBN 978-3-534-25644-0, EUR 19,95
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Der 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs 1914 hat geradezu eine Flut neuer Publikationen zum Thema des "Großen Krieges", wie er traditionell in Frankreich und Großbritannien, immer häufiger aber auch in Deutschland genannt wird, hervorgebracht: Neben diversen Ausstellungskatalogen erschienen Kompendien wie die "Cambridge History of the First World War", souveräne Gesamtdarstellungen wie Jörn Leonhards "Die Büchse der Pandora", neue Forschungsimpulse wie Christopher Clarks "Die Schlafwandler" und natürlich auch konzise Zusammenfassungen des Forschungsstandes für den Studien- und Lehrbetrieb. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft ist gleich mit zwei solchen Publikationen hervorgetreten: In der Reihe "Geschichte kompakt" ist unter dem schlichten Titel "Der Erste Weltkrieg" Wolfgang Kruses viel gelobter Versuch, das komplexe Geschehen des Krieges auf knapp 140 Seiten darzustellen, 2014 in zweiter Auflage erschienen; in der Reihe "Kontroversen um die Geschichte" wurde diesem jetzt das hier anzuzeigende Buch zur Seite gestellt. Beide Arbeiten erheben laut Verlagswerbung den Anspruch, speziell auf die Bedürfnisse der Studierenden in den neuen, gestuften Studiengängen zugeschnitten zu sein und praxis-, d.h. prüfungsrelevantes Wissen zu vermitteln. Während bei Kruse dabei dem Reihenformat entsprechend der Versuch im Vordergrund steht, das komplexe Geschehen des Krieges auf knapp 140 Seiten überblicksartig darzustellen, lässt sich Juliens Buch wohl am besten als eine Art kommentierter Forschungsbericht charakterisieren: Die Autorin lässt 100 Jahre Weltkriegsforschung Revue passieren und skizziert den aktuellen Forschungsstand. "Kontroversen", also explizit konkurrierende Deutungen und Wertungen bestimmter Aspekte des historischen Geschehens (wie besonders prominent die Fischer-Kontroverse oder, aktueller, der Streit um die "Kriegskultur" in Frankreich) kommen dabei auch vor, stehen aber nicht unbedingt im Zentrum der Darstellung. Ob diese Entscheidung des Verlags, "Darstellung" und "Tendenzen der Forschung" (die bekanntlich in anderen Handbuchreihen in einem Band vereint sind) auf zwei separate Bände aufzuteilen, klug ist, muss hier nicht entschieden werden - Zweifel erscheinen jedoch angebracht.
Mit Elise Julien hat sich dieser Aufgabe eine Historikerin der jüngeren Generation angenommen, deren wissenschaftliche Sozialisation geprägt wurde durch die Wiederbelebung und Erweiterung der Weltkriegsgeschichtsschreibung seit den 1990er-Jahren, markiert etwa durch die Eröffnung des Historial de la Grande Guerre in Péronne 1992. Julien, die seit 2011 als Dozentin ("maître de conférences") am Institut d'Etudes politiques in Lille arbeitet, hat 2007 eine deutsch-französische Dissertation zur Kriegserinnerung in den beiden Hauptstädten Paris und Berlin vorgelegt. Diese historiografische Doppelheimat schlägt sich auch sehr gewinnbringend in dem Buch nieder: Die Fragestellungen, Schwerpunkte und Entwicklungen der deutschen und der französischen Forschung geben der Darstellung ihre Struktur, weitaus stärker als die (durchaus präsente) angelsächsische oder gar die (schon aus sprachlichen Gründen kaum rezipierte) osteuropäische Forschung.
Julien hat ihre Arbeit sinnvoll in sechs größere Abschnitte gegliedert. Zunächst widmet sie sich der inzwischen hundertjährigen Debatte um den Kriegsausbruch bzw. die Kriegsschuld, die im Grunde bereits mit den ersten Kriegserklärungen begann und durch den "Kriegsschuldartikel" 231 des Versailler Vertrages an politischer Brisanz gewinnen sollte. In keiner anderen Frage ist der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Politik so evident wie in dieser, und nur sehr langsam konnte sich die historische Forschung aus dem Klammergriff der Politik befreien. Zu Recht betont die Autorin, dass Anfang des 21. Jahrhunderts zwar der politische Druck aus dem Thema genommen wurde und ein gewisser "Minimalkonsens" unter Historikern erreicht werden konnte, dass neue, revisionistische Impulse aber weiterhin denkbar bleiben, wie der Erfolg Christopher Clarks im Jubiläumsjahr gezeigt hat (31).
Steht im ersten Kapitel das Handeln der zentralen Entscheidungsträger und damit die klassische Politikgeschichte im Vordergrund, beschäftigt sich Julien in den folgenden Kapiteln mit den Gesellschaften, die in den Krieg zogen, und mit den neueren mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Ansätzen, die von den Historikern zur Analyse dieser Gesellschaften herangezogen wurden. Präzise zeichnet sie in Kapitel 2 nach, wie die Forschung, ausgehend von Jean-Jacques Beckers bahnbrechender Studie zu Frankreich, die lang gehegte (und in populären Darstellungen immer noch gängige) Vorstellung von der allgemeinen Kriegsbegeisterung in den letzten 30 Jahren korrigiert hat. In der Historiografie wird dies heute kaum kontrovers diskutiert - ganz anders als das Thema des 3. und 4. Kapitels, das "Durchhalten" der Soldaten an der Front und der Gesellschaften in der Heimat. Wie es zu erklären ist, dass trotz der grausamen, unmenschlichen Bedingungen an der Front und trotz der immer unsicherer werdenden Aussicht auf einen schnellen Sieg die Kriegsmaschinerien der feindlichen Mächte über vier Jahre lang funktioniert haben, darüber wird seit einigen Jahren heftig gestritten. Betonen die einen die Freiwilligkeit des soldatischen Engagements - die Soldaten kämpften aus patriotischer Überzeugung, sie identifizierten sich mit ihrer Nation, die sie in einem legitimen Verteidigungskrieg wähnten, und sie waren Teil einer "Kriegskultur" ("culture de guerre"), zu der selbstverständlich auch die militärische Gewalt zählte -, verweisen die anderen auf den politischen, militärischen und sozialen Zwang, dem sich niemand ungestraft entziehen konnte: Die Rede von der einen, einheitlichen Kriegskultur sei irreführend, denn sie verschleiere die tiefen sozialen und ideologischen Gräben, die die Kriegsgesellschaften durchzogen. Die Kontroverse zwischen diesen beiden "Schulen", die vor allem die französische Weltkriegshistoriografie in den letzten Jahren entscheidend geprägt hat, in Deutschland aber kaum bekannt ist, wird von Elise Julien auf anschauliche und ausgewogene Weise nachgezeichnet. Der Autorin ist sicherlich zuzustimmen, dass es sich hier um eine jener produktiven Kontroversen handelt, die neue Forschungen anregen und letztlich dazu beitragen, das historische Wissen zu mehren und zu differenzieren.
Zwei Kapitel sind schließlich der Nachkriegszeit gewidmet. Während in dem Abschnitt über die historiografische Rezeption der Pariser Friedensverträge zunächst wieder die politische (und hochgradig politisierte) Geschichte im Vordergrund steht, kehrt Julien im folgenden, dem politischen Totenkult gewidmeten Kapitel zur mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Perspektive zurück. Den Abschluss bildet die Frage, wie die Ereignisse und Erfahrungen der Jahre 1914-18 in die übergreifende Geschichte des 20. Jahrhunderts und insbesondere in die Geschichte der entgrenzten Gewalt, die dieses Jahrhundert geprägt hat, einzuordnen sind. Tatsächlich wurde der Erste Weltkrieg sowohl als Kulminationspunkt der nationalen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts als auch als Ausgangspunkt der "Totalisierungstendenzen" des 20. Jahrhunderts gedeutet - Julien tut gut daran, ihn vor allem als "Übergangsepoche" zu charakterisieren (119).
Juliens Arbeit erweist sich in allen diesen Abschnitten als zuverlässiger Führer sowohl durch die Forschungsgeschichte als auch durch die neuere Literatur: Gerade Studierende auf der Suche nach bibliografischer Orientierung werden dies zu schätzen wissen. Erfreulich ist, dass die Autorin die wissenschaftliche Forschung nicht isoliert betrachtet, sondern immer wieder die Querverbindungen zum politischen Diskurs einerseits, zu literarischen und künstlerischen Verarbeitungen des Kriegserlebnisses andererseits aufzeigt. Zu kurz kommt hingegen die Einbettung der Weltkriegsforschung in die übergreifenden historiografischen Zusammenhänge, seien sie theoretisch-methodologischer, seien sie thematischer Art. Dass etwa die historiografische "Entdeckung" der Frontsoldaten eng zusammenhängt mit dem Interesse an der Alltagsgeschichte, das wiederum an bestimmte politische und geschichtstheoretische Entwicklungen der 1970er- und 1980er-Jahre geknüpft war, wird nur zu nebenbei erwähnt.
Leider ist die Lektüre über weite Strecken zähe Kost. Dies ist wohl weniger der Autorin, die keine Muttersprachlerin ist, vorzuwerfen als vielmehr einem wenig gründlichen und viel zu zaghaften Lektorat. Zahlreiche Formulierungen wirken holprig, einige sind schlicht unverständlich: So beklagt die Autorin in ihrem Fazit die "Unausgewogenheit der Forschung auf weltlicher Ebene" (126, Marginalie). Gemeint ist, dass die Forschung einigen Weltregionen - etwa Lateinamerika, Asien oder auch Afrika - bislang wenig Beachtung geschenkt hat. Fehler dieses Kalibers dürfen das Lektorat nicht passieren. Sie sind zwar die Ausnahme und nicht die Regel, aber dennoch ziehen sich die stilistischen Schwächen durch das ganze Buch. Auch der Hang der Autorin zu unnötig akademisch verklausulierten Formulierungen ist dem Lesefluss und auch dem Verständnis nicht förderlich. Was es bedeuten soll, dass die historiografischen Kontroversen aus "unterschiedlichen diachronischen Herangehensweisen" resultieren (121), kann man sich zwar in etwa vorstellen, verständlich (und korrekt) formuliert ist es aber nicht. Studierende, die eigentliche Zielgruppe des Buches, können hier allenfalls lernen, wie akademisches Schreiben nicht aussehen sollte. Die eigentlich sehr löbliche Entscheidung des Verlags, für dieses Buchprojekt eine Autorin zu gewinnen, die einerseits mit dem deutschen Lehr- und Forschungsbetrieb vertraut ist, andererseits aber aus einer internationalen (hier: französischen) Perspektive auf das Thema blickt, verliert dadurch erheblich an Charme. Sehr bedauerlich!
Daniel Mollenhauer