Rezension über:

Philipp Lenz: Reichsabtei und Klosterreform. Das Kloster St. Gallen unter dem Pfleger und Abt Ulrich Rösch 1457-1491 (= Monasterium Sancti Galli; 6), St. Gallen: Verlag am Klosterhof 2014, 655 S., ISBN 978-3-905906-10-3
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Rezension von:
Michael Hohlstein
Universität Konstanz
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Michael Hohlstein : Rezension von: Philipp Lenz: Reichsabtei und Klosterreform. Das Kloster St. Gallen unter dem Pfleger und Abt Ulrich Rösch 1457-1491, St. Gallen: Verlag am Klosterhof 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/03/28576.html


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Philipp Lenz: Reichsabtei und Klosterreform

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In seiner 2012 an der Universität Freiburg i.Ü. verteidigten und nun im Druck vorliegenden Dissertation widmet sich Philipp Lenz den Erneuerungen im Benediktinerkloster St. Gallen während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, jener Zeit, in der Ulrich Rösch zunächst ab 1457 als Pfleger, seit 1463 bis zum seinem Tod im Jahr 1491 als Abt dem ehrwürdigen Kloster des heiligen Gallus vorstand. Für beide Aspekte, die spätmittelalterliche Klosterreform in der Reichsabtei und die Person Ulrich Rösch liefert Lenz verdienstvolle Einsichten, die das bisher von der Forschung gezeichnete Bild nicht nur ergänzen, sondern in Teilen auch modifizieren.

Lenz geht sein Vorhaben in drei großen Schritten an. Zunächst liefert er im ersten Teil gleichsam eine Vorgeschichte, vor deren Hintergrund eine klösterliche Alltagsgeschichte der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts deutlich und verständlich werden soll. In der Diskussion der Reformbemühungen in den Jahren 1417-1457 gelingt es dem Verfasser überzeugend darzulegen, dass es sich dabei nicht um observanzspezifische Reformen handelte, wie Gebhard Spahr die Entwicklungen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit Verweisen auf die Verflechtungen des Klosters mit Reformmönchen aus Hersfeld und Wiblingen oder den monastischen Reformzentren von Kastl und Subiaco-Melk ehedem gedeutet hatte. Nach Lenz hatten diese Einflüsse allenfalls eine beschränkte Wirkung, was sich sowohl in der sozialen Zusammensetzung der Klostergemeinschaft als auch im Umgang mit den von auswärts nach St. Gallen kommenden Reformtexten zeigt, die entweder gar nicht rezipiert oder im starken Maß den lokalen Traditionen angepasst wurden. Statt für observanzspezifische Reformen stehe das Beispiel St. Gallen für eine gesamtbenediktinische Reform, die sich über päpstliche und konziliare Reformbeschlüsse des späten Mittelalters formiert hatte und Eingang in die Mainz-Bamberger Kirchenprovinz gefunden hatte, zu der St. Gallen gehörte.

Philipp Lenz nimmt nicht nur geistliche Aspekte in den Blick, sondern operiert mit einem erweiterten Reformbegriff, dem zufolge auch Neuerungen im weltlichen Bereich des Klosters als Teil der monastischen Reform Berücksichtigung finden. Mit der Betonung von Geistlichem und Weltlichem bricht er nicht nur eine oftmals in der Forschung anzutreffende Engführung auf, die entweder das Eine oder das Andere betont. Die doppelte Perspektive legt der Verfasser ebenso im zweiten Teil seiner Arbeit, in dem er die rechtlichen und baulichen Verhältnisse der Abtei darstellt, wie auch im dritten Teil dar, in dem er die inneren Verhältnisse der Abtei unter Ulrich Rösch behandelt. Damit gewinnt er neue Einsichten. Deutlich tritt das Kloster St. Gallen nicht nur als Inhaber weltlicher Rechte hervor, sondern es werden die Konturen einer geistlichen Anstalt in einer vielfältigen spätmittelalterlichen Rechtslandschaft sichtbar. Im Kontext der kirchlichen Verfassung zeigt sich ein relativ eigenständiges Kloster, das sich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts zunehmend über den Erwerb von Privilegien diözesanbischöflichen Ansprüchen entzog. Mit der von päpstlicher Seite autorisierten Einschränkung von Weihe-, Jurisdiktions- und Ehrenrechten des Konstanzer Bischofs zugunsten der Abtei spricht der Verfasser das Problem der Exemtion im monastischen Kontext an, das hier für St. Gallen zum ersten Mal in normativer und praktischer Hinsicht in Grundzügen aufgearbeitet wird. Zu den Freiheiten des Klosters gehörten auch Rechte als Patronats- und Inkorporationsherr über Pfarrkirchen, Kapellen und Altäre, mit deren Ausübung die Reichsabtei über den Klosterbezirk hinausgriff und unter anderem auch in der Stadt St. Gallen Einfluss nahm.

Die Person Ulrich Rösch gewinnt in der Arbeit von Lenz Facetten über die von der Forschung bisher betonte Rolle als weltlicher Fürst hinaus. Der Verfasser fügt dem bekannten Bild das Porträt eines geistlichen Herren hinzu. Wiederum beide Aspekte finden Berücksichtigung in der Aufarbeitung der baulichen Maßnahmen, die Rösch initiierte, und in der Ausgestaltung der inneren Verhältnisse des Klosters in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Das von 1487 bis zum Klosterbruch 1489 verfolgte Vorhaben, in Rorschach ein neues Kloster aufzubauen, stellte, so der Verfasser, nicht den Versuch einer Neugründung des alten Gallusklosters am Südufer des Bodensees dar. Vielmehr zielte der Plan auf Trennung von Geistlichem und Weltlichem hin, sollte in Rorschach doch das wirtschaftliche, militärische und administrative Zentrum der Reichsabtei entstehen. Rösch widmete sich sakralen Bauten genauso wie profanen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden. In der Ausgestaltung des St. Galler Münsters trug er sowohl der im Kontext der monastischen Reformen geforderten Stärkung und Abschließung der vita communis, hier versinnbildlicht im Chorraum, Rechnung als auch lokalen, außermonastischen Bedürfnissen von Laien.

Zwischen klösterlichen Traditionen, Reformansprüchen und gewandelten Bedürfnissen der klösterlichen familia und Interessen von mit der Reichsabtei verbundenen Laien bewegte sich auch der Alltag im Kloster. Davon zeugen die Neuordnungen der Liturgie. Es kam zu Veränderungen innerhalb der Liturgie, etwa der Horen und der Messe. Das Kloster mit seinen Altären und Kapellen bot auch Raum für die Laienseelsorge. In diesem Zusammenhang lässt sich eine Trennung der Memoria zwischen einem konventualen und laikalen Totengedächtnis beobachten. Die Einrichtung von Messstiftungen, etwa das Frühamt, und Prädikatur, die innerhalb des St. Galler Münster von einem prominenten Konventsmitglied versehen wurde, trug ebenso den Bedürfnissen einer cura animarum für die Laien Rechnung. Während des Abbatiats Röschs, der innerhalb der Klostergemeinschaft nicht über eine uneingeschränkte Machtfülle verfügte, sondern auf die Unterstützung und Zustimmung der Konventualen angewiesen war, erhöhte die prominente Sichtbarmachung von Reliquien, nicht zuletzt die Translatio der Gebeine des heiligen Gallus oder die Anbringung eines Vesperbildes die Dignität des Ortes. Kloster und Laien profitierten gemeinsam; ersteres erwirtschaftete über Stiftungen und Ablässe Einkommen, letztere hatten Orte für eine zeitgenössische Frömmigkeit, die sich nicht zuletzt in der Verehrung Mariens, ihrer Mutter Anna oder der heiligen Sippe zeigte. Die Neuorganisation der Bibliothek folgt mehr den Anliegen der benediktinischen Klosterreform als humanistischen Einflüssen der Zeit.

Lenz' Beitrag zur Geschichte des Klosters im 15. Jahrhundert beleuchtet zahlreiche spannende Aspekte und macht Dinge einsichtig, die bisher von der Forschung noch nicht präsentiert wurden, nicht nur mit Blick auf seinen zentralen Aspekt, die benediktinische Klosterreform, deren Anliegen die Neuorganisation der Bibliothek stärker beeinflusste als es der Humanismus der Zeit vermochte, oder die Person Ulrich Rösch. Das gemeinhin als konfliktreich beschriebene Verhältnis der Abtei zur Stadt St. Gallen revidiert er. Für die Absetzung des Vorgängerabtes Kaspar von Breitenlandenberg betont er das zuvor noch nicht aufgearbeitete Inquisitionsverfahren, das Licht auf die zunehmende kirchenrechtliche Juridisierung von Konfliktaustragungen im späten Mittelalter wirft. Die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Kaspar von Breitenlandenberg und Ulrich Rösch lässt aber zugleich eine Schwierigkeit des Buches sichtbar werden: die Fülle an Einzelbefunden, die zu Lasten einer stringenten Darstellung geht, die nach mehr Beschränkung und Fokussierung verlangen würde.

Kritik muss zudem an einer eher unreflektierten Verwendung konzeptioneller Begrifflichkeiten geübt werden. Lenz erhebt den Anspruch, die Geschichte der Reichsabtei St. Gallen im 15. Jahrhundert zwischen Struktur- und Alltagsgeschichte zu erzählen. Weder das eine, noch das andere wird theoretisch umfassend genug eingeführt bzw. in der Strukturierung der Arbeit konsequent durchgehalten. Was der Verfasser unter Struktur versteht, bleibt im Vagen von Verweisen auf Handlungsspielräumen. Die Alltagsgeschichte schöpft zu sehr aus normativen Quellen. Ein wenig in die Irre führt er den Leser dann, wenn er in der Einleitung eine Mikrogeschichte und eine globale Perspektive verspricht. Für eine Mikrogeschichte ist es notwendig, den Einzelfall in einen größeren Rahmen einzubetten. Hierzu böte sich ein Vergleich mit anderen Klöstern an, der aber aufgrund der Materialfülle, die es allein schon für St. Gallen zu bearbeiten gilt, wohl gar nicht zu leisten ist. Eine globale Geschichte anzukündigen ist ebenfalls ungeschickt, weckt sie doch vor dem Hintergrund aktueller Debatten um global history und Weltgesellschaft falsche Assoziationen. Gleiches gilt es anzumerken, wenn der Verfasser seiner Studie das Etikett Interdisziplinarität verleiht. Zweifellos berücksichtigt er in seiner Arbeit Phänomene, die zuvor noch nicht explizit Gegenstand der Forschung waren, etwa Aspekte der Liturgie und der monastischen Musik. Allerdings besteht Interdisziplinarität nicht in der Addition unterschiedlicher Gegenstandsbereiche, sondern sollte sich in der Adaption konzeptioneller, theoretisch-methodischer Zugriffsweisen über Disziplingrenzen hinaus erweisen.

Gleichwohl hat Philipp Lenz ein Buch geschrieben, das wichtige Einsichten für die Geschichte des Klosters St. Gallen im späten Mittelalter liefert. Es bereichert die Forschungslandschaft, schließt manche Forschungslücke und modifiziert überkommene Forschungsergebnisse. Wer über das Kloster St. Gallen im 15. Jahrhundert arbeiten möchte, muss dieses Buch zur Kenntnis nehmen. Vieles lässt sich daraus lernen. Zugleich eröffnet es breite Zugänge zu den relevanten Quellen, von denen einige in einem fast hundertseitigen Anhang vorgestellt, kontextualisiert und ediert werden, etwa die Kloster- und Ämterordnungen, die während des Abbatiats des Ulrich Rösch erlassen wurden, die Ordnung für die Laienbrüder und das St.-Otmar-Spital von 1470, Stiftungsurkunden von 1475 und 1480 sowie die Visitationsprotokolle der Jahre 1469 und 1485. Ein sorgfältig gearbeitetes Register hilft, Personen, Orte und Sachen schnell zu finden.

Michael Hohlstein