Michael Maurer: Wilhelm von Humboldt. Ein Leben als Werk, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 310 S., ISBN 978-3-412-50282-9, EUR 24,99
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In den kulturellen Diskussionen wird regelmäßig der Abschied von der Humboldtschen Konzeption eines ganzheitlichen Konzepts von Bildung beschworen und gleichzeitig beklagt. Doch die Organisation des preußischen Schulwesens und die Gründung der Berliner Universität waren nur Episoden im Leben eines Autodidakten und Universalgelehrten.
Wilhelm von Humboldt (1767-1835) besuchte wie sein Bruder Alexander nie eine Schule. Nach Unterricht durch Privatlehrer und Studium in Frankfurt an der Oder und Göttingen sowie ersten Reisen und einem kurzen Zwischenspiel im preußischen Staatsdienst privatisierte der frisch Verheiratete auf dem Gut seines Schwiegervaters. Erst 1802 übernahm er wieder eine politische Aufgabe, und zwar als preußischer Gesandter in Rom. 1809 wurde er zum Leiter der "Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts" ernannt und entwickelte als Schulreformer in dieser Funktion das humanistische Gymnasium und gründete die Universität, die heute nach ihm benannt ist. Nach eineinhalb Jahren wurde er bereits wieder abberufen und als Botschafter nach Wien gesandt, wo er den Wiener Kongress zur Neuordnung Europas nach Napoleon mitgestalten konnte. Weitere Posten in Frankfurt und London folgten, ehe er 1819 zum Minister für Ständische Angelegenheiten ernannt und wegen seiner Kritik an den Karlsbader Beschlüssen bald wieder entlassen wurde. Mit 52 Jahren zog er sich auf sein Schloss in Tegel zurück.
In diese nur wenige Jahre umfassende äußere Tätigkeit flicht Michael Maurer die Werkgeschichte Humboldts ein. Humboldt war wesentlich Sprachwissenschaftler. Fasziniert von der griechischen Sprache, sah er in deren Schriften etwas vom idealen Menschsein verwirklicht. Im Studium des Altertums hoffte er, zu einer tiefen Menschen- und Selbstkenntnis zu gelangen. Eigene Erfahrungen flossen in seine wissenschaftlichen Schriften mit ein, so besonders in seine Studien zur männlichen und weiblichen Form und dem Unterschied der Geschlechter. Im Kontakt mit den Weimarer Klassikern, besonders zu Friedrich Schiller, wurde ihm klar, dass seine Begabung nicht in der Dichtkunst, sondern der wissenschaftlichen Rezeption lag.
Die anthropologischen Studien verlagerten sich von der Physiognomik auf die Suche nach dem Nationalcharakter. Zunächst in Frankreich, dann in Spanien, studierte er die jeweiligen Sprachen und fragte nach ihren Urformen im Provenzalischen und Baskischen. Stupende Kenntnisse von Deutsch und Französisch, Latein und Griechisch, Englisch und Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Altprovenzalisch und Baskisch, Ungarisch und Tschechisch, bis hin zu indigenen Sprachen Lateinamerikas und asiatischen Sprachen von Arabisch über Chinesisch, Japanisch bis zu Sanskrit und malaiisch-polynesisch-javanischen Sprachen befähigten ihn zur Ausarbeitung einer umfassenden Sprachentheorie. Im Vergleich der Sprachen interessierten ihn die grammatischen Formen, die Arten der Schriften sowie des Sprachbaus. Humboldt wurde so zum Begründer der modernen Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie.
Dass Sprache aber auch dazu dient, eine Idee der Menschheit auszudrücken, war Gegenstand der geschichtsphilosophischen Studien Humboldts. Politisch war er dem Liberalismus zugeneigt, sich seiner adeligen Vorrechte bewusst, aber immer auf seine Freiheit bedacht, was sich auch in seiner nur zeitweisen beruflichen Beschäftigung im Staatsdienst ausdrückte.
Humboldt stand an der Schwelle von der Aufklärung zur Romantik. Mit den Klassikern war er in engem Kontakt. Seine Briefwechsel, wie sehr sie teilweise auch für die Publikation purgiert und gekürzt sind, zeigen ihn als sensiblen Beobachter, als stillen Helfer und Erzieher (sein Briefwechsel mit einer langjährigen Freundin offenbart Nähe und Distanz gleichermaßen), als liebenden Ehemann und Vater (trotz mancher Krisen in der Partnerschaft und nicht immer nachvollziehbarer jahrelanger Trennung von seiner Frau Caroline). Am Ende seines Lebens scheint jedoch der Pflichtmensch durch, der drei Jahre lang jeden Abend seinem Sekretär ein Sonnett in strenger Versform diktiert.
Michael Maurer verbindet Lebens- und Werkgeschichte so eng, dass der Untertitel des Buches "Ein Leben als Werk" seine Berechtigung erhält. Wilhelm von Humboldt, den die Freude am Reisen mit seinem Bruder Alexander verband, suchte im Individuellen, in der Selbsterkenntnis, eine universalisierbare Position. "Lange arbeitete er sich ab an den damals vorliegenden Kategorien wie Nationalcharakter, Geschlechtscharakter und Physiognomie, bis er schließlich in der Begegnung mit der Fremdheit der baskischen Nation die Sprache als anthropologisch entscheidend erkannte." (284). So ist Humboldt nicht nur zum Reformer von Gymnasium und Universität geworden, sondern auch zum Begründer der modernen Sprachwissenschaften. Das Anliegen einer umfassenden Bildung als Fundament jedes Menschseins beschäftigte ihn in allen Tätigkeiten. Maurers Verdienst ist es, das herausgearbeitet zu haben.
Joachim Schmiedl