Rezension über:

Patrick Kupper / Irene Pallua: Energieregime in der Schweiz seit 1800. https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/45346.pdf, Bern: Bundesamt für Energie 2016, 130 S.

Rezension von:
Martin Diebel
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Martin Diebel: Rezension von: Patrick Kupper / Irene Pallua: Energieregime in der Schweiz seit 1800. https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/45346.pdf, Bern: Bundesamt für Energie 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 5 [15.05.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/05/30200.html


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Patrick Kupper / Irene Pallua: Energieregime in der Schweiz seit 1800

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Kaum ein Feld der historischen Forschung ist so eng mit drängenden Fragen unserer Gegenwart und Zukunft verknüpft wie die Energiegeschichte. Insbesondere die bundesdeutsche "Energiewende" aber auch der Schweizer Ausstieg aus der Atomkraftnutzung bis 2034 verlangt Antworten darauf, wie ein derartiger Prozess - Abwicklung der Kernenergie und gleichzeitige Förderung erneuerbarer Energien - politisch gestaltet und sozio-ökonomisch institutionalisiert werden kann. Die vorliegende, von Patrick Kupper gemeinsam mit Irene Pallua verfasste Studie zu den "Energieregimen in der Schweiz seit 1800" zeigt: Ein erster wichtiger Schritt ist der Blick zurück. Im Fokus steht der historische Wandel des Schweizerischen Energiesystems. Wie entstanden dessen heutige Strukturen? Welche Faktoren begünstigten oder behinderten bestimmte Entwicklungen? In ihrer Absicht Pfadabhängigkeiten ebenso aufzuzeigen wie die prinzipielle Kontingenz von (Energie)Geschichte ist ein umweltpolitisch motivierter Impetus abzulesen, was aber weder den Wert der Studie schmälert noch untypisch ist für umweltgeschichtliche Abhandlungen. So steht die gestaltende Rolle von Politik und Staat im Fokus. Welche Entscheidung hatte welche energiestrukturellen Folgen und wieviel Handlungsspielraum war den jeweiligen Akteuren gegeben? Mit ihrer Arbeit reihen sich Patrick Kupper und Irene Pallua in neuere Forschungsansätze der interdisziplinären Umwelt- und Energiegeschichte ein. [1] Für ihren analytischen Zugriff wählen sie das Konzept des Energieregimes. Sie verbinden damit eine Vielzahl von energie-, technik- und umweltgeschichtlichen Ansätzen.

Die Studie gliedert sich entsprechend der von den Autoren ausgemachten Schweizer Energieregime in sechs Hauptkapitel. Den Beginn macht das "traditionelle" Energieregime um 1800, das vorwiegend auf Holz und der mechanischen Nutzung von Wasserkraft basierte. Die zu dieser Zeit einsetzende Industrialisierung baute demnach auf dem Einsatz erneuerbarer Energieträger auf - eine Schweizer Besonderheit insbesondere mit Blick auf England, wo eine intensive Kohlenutzung die Industrialisierung vorantrieb. In der Schweiz sorgte erst die Entwicklung der Eisenbahn für den Aufstieg des Kohleregimes seit 1860. Sie ermöglichte die Einfuhr saarländischer Steinkohle, die der ohnehin spärlich vorhandenen heimischen Kohle qualitativ überlegen war. Doch die billigen Importe hatten ihren Preis: Kriegsbedingte Knappheitserfahrungen während des deutsch-französischen Krieges oder des Ersten Weltkrieges und ein damit einhergehendes Autarkiestreben führten um die Jahrhundertwende zu einem gezielten Ausbau der Wasserkraftnutzung. Ab diesem, vierten Kapitel verschwimmen leider die Begriffe. Es wird zunehmend unklar, was das jeweilige Energieregime ausmacht. Ist es die Nutzung von Primärenergieträgern Kohle, Wasserkraft, Holz und anderen oder der Konsum und die Nutzung dieser Energieträger in Form von Elektrizität, Treibstoff oder Wärme? Je nach Blickwinkel verändert sich die Gestalt des Energieregimes. So bezeichnen die Autoren das Wasserkraft- gelegentlich auch als hydroelektrisches oder Elektrizitätsregime. Aber gerade der anfangs getätigte und nicht durchweg vollzogene Vergleich mit England offenbart, der Konsum und die Produktion von Elektrizität können ebenso stark auf Kohle basieren.

In den beiden folgenden Kapiteln zum Erdölregime und dem Atomkraftregime zeigen sich die grundsätzlichen Probleme des Energieregime-Ansatzes. Während Erdöl vor allem für den Wärme- und Mobilitätssektor seit den 1950er Jahren bis heute einer der wichtigsten Energieträger bleibt, gewann die Kernenergie in den 1960er Jahren - zunächst allerdings diskursiv - an Relevanz für den Elektrizitätssektor. Beide Regime liefen also parallel. Von einer Ablösung oder Überlagerung von Erdöl durch Kernenergie kann insofern nicht gesprochen werden, da beide für einen jeweils anderen Energienutzungsbereich wichtig sind. Es zeigt sich: Je näher der Forschungsgegenstand rückt, umso schwieriger wird es, das Konzept des Energieregimes durchzuhalten. Eher könnte von mehreren zeitgleich auftretenden Energieregimen gesprochen werden. Die Vielfältigkeit sowie Gleichzeitigkeit von Energieträgern und Energiegewinnung macht es schwierig, nach 1945 einen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bestimmenden Energieträger auszumachen. Folglich wirft das letzte Kapitel die Frage auf, welches Energieregime dem Erdöl beziehungsweise der Kernenergie folgt. Im Fokus stehen die gesellschaftlichen, von der Umweltbewegung sowie der Anti-Atomkraft-Bewegung initiierten Debatten um Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Im Zuge dessen avancierte auch die Art der Energiegewinnung und -nutzung zu einem umweltpolitischen Faktor. Erneuerbare Energien aus Wind, Sonne und Wasser sowie das Energiesparen gewannen auf der energiepolitischen Agenda an Priorität, ohne dass Erdöl oder Kernenergie zunächst an Relevanz verloren.

Insgesamt besticht die Studie durch einen multiperspektivischen Ansatz, der sich nicht allein auf die quantitative Auswertung Schweizer Energiestatistiken konzentriert. Vielmehr richtet sich der Blick auf staatliche, gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Akteure gleichermaßen. Materielle Ausformungen des jeweils untersuchten Energieregimes kommen ebenso zum Tragen wie der diskursive Kontext. Leider jedoch können die Autoren die in das Schema der "Energieregime" gesteckten Erwartungen nicht gänzlich erfüllen. Dies liegt aber keinesfalls in dem durchaus vielversprechenden methodischen Ansatz oder einer mangelnden Souveränität über das vorhandene Quellenmaterial - beides ist unbestreitbar -, sondern schlicht in der Anlage der Studie selbst. Es handelt sich um eine Auftragsarbeit durch das Schweizer Bundesamt für Energie (BFE). Auf offenkundig knapp bemessenen Raum versuchen Patrick Kupper und Irene Pallua das gesamte Panorama ihres Forschungsansatzes am Fallbeispiel der Schweiz auszubreiten. Diese Zwischenstellung zwischen Auftragsarbeit und historischer Forschung spricht zum einen für die (wünschenswerte) Relevanz zeitgeschichtlicher Wissenschaft. Zum anderen verbindet sich damit die Gefahr, bestimmte Entwicklungen vereinfacht darzustellen oder - politisch verwertbar - zuzuspitzen. Bei den oftmals allzu abrupten Übergängen von einem Themenkomplex zum nächsten drängt sich der Eindruck auf, hier blieb kein Raum für eine tiefergehende Analyse. Hinzu kommt ein dem Konzept des Energieregimes zugrundeliegendes Problem. Wenn man wie die Autoren davon ausgeht, dass ein Energieregime das andere nicht einfach ablöst, sondern das diese sich wechselseitig bedingen und überlagern, dann braucht es eine angemessene Systematik. So greifen die Autoren jedoch auf eine starre Gliederung zurück, die unvermeidlich zu ständig wiederkehrenden chronologischen Sprüngen führt.

Doch steht all die hier vorgebrachte Kritik unter Vorbehalt. Die Autoren stellen viele kluge Fragen und erschließen aus einer Langzeitperspektive heraus vielfältig miteinander verschränkte Analyseebenen - einzig: Mit 130 Seiten fehlt ihnen schlicht der angemessene Raum. Es bleibt zu hoffen, dass sie ihre Forschung zu den Schweizer Energieregimen anderweitig weiterführen - vielleicht sogar auf international vergleichender Ebene. Zunächst bleibt es zum einen das Verdienst der Autoren, ein gewinnbringendes neues Konzept in die (deutschsprachige) umwelt- und energiehistorische Debatte eingeführt zu haben. Zum anderen bieten sie einen spannenden Einblick in die Schweizer Energiegeschichte, die trotz aller Besonderheiten - bedingt vor allem durch ihr konkordanzdemokratisches Regierungssystem - auf ein allgemeines Prinzip verweist: Energie(geschichte) ist nicht gegeben, sie wird gemacht.


Anmerkung:

[1] Beispielhaft seien hier aufgeführt Christopher Jones: Routes of Power. Energy and Modern America. Cambridge 2014.; Astrid Kander / Paolo Malanima / Paul Warde (eds.): Power to the People. Energy in Europe over the Last Five Centuries. Princeton 2013. Einen bibliografischen Überblick bieten Patrick Kupper / Odinn Melsted / Irene Pallua: On Power. Neue Literatur zur Energiegeschichte, in: NTM International Journal of History & Ethics of Natural SciencesTechnology & Medicine 3 (2017).

Martin Diebel