Patrick Kupper: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft. Die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugust (= Interferenzen. Studien zur Kulturgeschichte der Technik; 3), Zürich: Chronos Verlag 2003, 321 S., ISBN 978-3-0340-0595-1, CHF 24,80
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Die "Geschichte eines gescheiterten Projektes", wie es im Untertitel von Patrick Kuppers Züricher Dissertation heißt, beschreibt den Planungsprozess des Kernkraftwerkes in einer kleinen schweizerischen Gemeinde nahe Basel zwischen Mitte der Sechziger- und Ende der Achtzigerjahre. Der öffentliche Widerstand gegen das Projekt, bei dem es nie zur Bauausführung kam, hatte in der Schweiz eine ähnlich große Bedeutung wie die Proteste gegen das Kernkraftwerk Wyhl in der Bundesrepublik.
Bislang war die Geschichte der Auseinandersetzungen um die Kernkraft im Wesentlichen eine Domäne sozial- und politikwissenschaftlicher Studien. Diese betrachteten die Antiatomkraftbewegung als Beispiel für die "neuen sozialen Bewegungen" oder richteten den Fokus auf publizistische Debatten. Allzu oft erschien dabei der schleichende Abschied vom Kernenergieprogramm ab Mitte der Siebzigerjahre als direkte Folge des organisierten Widerstands oder publizistisch artikulierter Kritik. Patrick Kuppers Studie wählt eine andere Perspektive, freilich ohne die Gegenmobilisierung außer Acht zu lassen.
Kupper stützt sich in seiner Fallstudie maßgeblich auf das Archiv der mittlerweile abgewickelten Planungsgesellschaft und schenkt der Sicht der Unternehmensführung große Aufmerksamkeit. Diese ergänzt und kontextualisiert er mit Akten der staatlichen Genehmigungsbehörden und Äußerungen der "Opposition" gegen das Projekt. Das Ergebnis ist weder eine Helden- noch eine Schurkengeschichte. Stattdessen beschreibt Kupper mit gebührender sachlich-kritischer Distanz zum Untersuchungsobjekt den "Aufstieg" und "Fall" eines technischen Großprojekts (20).
Seine Unvoreingenommenheit erlaubt Kupper interessante Einsichten. Die besondere Pointe liegt in seiner These von der "Schwäche" des Betreiberkonsortiums (passim und insbesondere 292, 295), was einen erhellenden Kontrapunkt zu den üblichen Annahmen von der mächtigen Atomlobby setzt. Auch wenn von einem Einzelfall nicht ohne weiteres auf die Gesamtsituation der Kernenergiewirtschaft geschlossen werden kann, wäre es lohnenswert, diese These zum Ausgangspunkt auch für Studien über die bundesdeutschen Verhältnisse zu nehmen.
Die Schwäche der Betreiber lag darin, nicht angemessen auf die zunehmende ökologische Kritik zu reagieren und in der Planung kaum flexibel zu sein. Beide Defizite resultierten aus der schieren Größe des Projekts und aus seinen Entstehungsbedingungen in Zeiten der Atomeuphorie. Als Kaiseraugst 1966 in die Planung ging, schien die Zukunft des Kernenergiesektors derart rosig, dass sich die unterschiedlichen Energieversorger in der Schweiz hauptsächlich damit beschäftigten, die Projekte ihrer jeweiligen Konkurrenten zu obstruieren (65). Auf der Strecke blieb dabei ein landesweites Konzept für die Versorgung mit Kernenergie, es herrschte atompolitischer "Wildwuchs" (292). Dieser machte die Kerntechnik prinzipiell angreifbar und erhöhte die Investitionskosten der Betreiber.
Schon fast tragisch ist das Scheitern der Öffentlichkeitsarbeit der Betreiber von Kaiseraugst. Sie wussten um die Bedeutung des öffentlichen Wohlwollens für die Realisierung eines solchen Projekts. Daher waren sie ursprünglich entschlossen, ihre Vorhaben transparent zu machen und aktiv zu kommunizieren (68). Nur in der entscheidenden Phase zwischen 1970 und 1975, als der kerntechnische Konsens aufbrach, vertraute die Geschäftsleitung fälschlicherweise darauf, vor Ort ausreichende Unterstützung zu besitzen. Es dauerte lange, bis sie begriff, dass die Kernenergie sich nunmehr grundsätzlich rechtfertigen musste. Während die Betreiber den Genehmigungsprozess weiterhin als rein technisches Problem betrachteten, wurde er in den Augen staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure eine politische Angelegenheit mit großer Symbolwirkung. Als die Kraftwerk Kaiseraugst AG nach massiven Protesten 1975 wieder zu einer dialogbereiten Außenkommunikation zurückfand, waren die Fronten bereits so verhärtet, dass es nicht mehr gelang, Gegner von der Notwendigkeit der Anlage zu überzeugen (154-170).
Auch Kupper sieht die ökologischen Proteste letztlich als Grund für das Scheitern von Kaiseraugst an. Doch vermeidet er ein simples Reiz-Reaktions-Schema und verfolgt ihre Wirkungen in den Verästelungen des Planungs- und Genehmigungsprozesses. Die ersten schweren Rückschläge für das Projekt an der Wende zu den Siebzigerjahren resultierten nicht zuletzt daraus, dass die Genehmigungsverfahren der staatlichen Behörden sich unerwartet lang hinzogen. Schuld war neben Warnungen vor negativen Folgen der Kühlwassereinleitung in den Rhein vor allem die technische Komplexität der Materie, die man in der euphorischen Phase unterschätzt hatte (Kapitel 4). Zunächst reagierte die Betreibergesellschaft auf den massiven Protest mit einer Verhärtung der eigenen Position, da sie einen negativen Präzedenzfall fürchtete (160-163). Ab Ende der Siebzigerjahre fehlte es dann deutlich am politischen Willen, das Kraftwerk zu genehmigen. Dennoch hielten Behörden und Betreiber bis zur Katastrophe von Tschernobyl den Anschein aufrecht, das Projekt realisieren zu wollen. Hintergrund war die Sorge der Regierung vor Schadenersatzforderungen. Seitens der Kraftwerk AG schien die Fortsetzung der Planungen angesichts erheblicher bereits getätigter Investitionen ökonomisch sinnvoller als ein Verzicht auf mögliche Schadenersatzansprüche (Kapitel 6).
Kupper beschäftigt sich eingehend mit den Hintergründen für den raschen Imageverlust der Kernenergie zwischen 1970 und 1975. An diesem Punkt greift er unter dem Stichwort "1970er-Diagnose" weit über die Fallstudie hinaus. Unter Berufung auf Foucaults Diskursmodell und Kuhns Konzept wissenschaftlicher Revolutionen konstatiert er einen raschen Wandel von Weltdeutungen. Es sei eine neuartige Auffassung des Mensch-Umwelt-Verhältnisses entstanden, die fortan von komplexen Kreislaufmodellen geprägt gewesen sei. Als im Zuge dieses Paradigmenwechsels die bis dahin geltenden Wachstums- und Fortschrittsmodelle an Überzeugungskraft verloren, kristallisierte sich die Kritik am zentralen Symbol von technischem Fortschritt und Wachstumspolitik, nämlich der Kernenergie (Kapitel 3, insbesondere 136 f). Diese Erkenntnis ist im Grundsatz nicht neu. Doch Kupper gelingt es, sie für seine Studie zu operationalisieren. Er macht deutlich, wie rasch sich das semantische Umfeld der Kraftwerksplanungen veränderte, ohne dass das Planungskonsortium darauf angemessen reagierte, zumal es sich in dieser Phase hauptsächlich mit der Genehmigungsprozedur beschäftigte. Damit stützt er die auch in anderem Zusammenhang bereits geäußerte These, dass die Konfliktparteien das Problem verschiedenartig definierten und weitgehend aneinander vorbei kommunizierten.
Insgesamt entsteht ein fassettenreiches Bild der Planungsgeschichte des Kernkraftwerks Kaiseraugst. Kupper zeigt die Bedeutung so unterschiedlicher Faktoren wie bürokratischer, technischer und ökonomischer Pfadabhängigkeiten, regionalpolitischer Taktik, dramatischer Änderungen in Diskursen und Sinnzuschreibungen, den Einfluss neuer politischer Akteure, aber auch kontingenter Ereignisse. Zudem ist die Arbeit klar formuliert, gut strukturiert und flüssig zu lesen.
Jens Ivo Engels