Tilman Haug / Nadir Weber / Christian Windler (Hgg.): Protegierte und Protektoren. Asymmetrische politische Beziehungen zwischen Partnerschaft und Dominanz (16. bis frühes 20. Jahrhundert) (= EXTERNA. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven; Bd. 9), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 528 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50535-6, EUR 75,00
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Der auf eine im April 2014 veranstaltete internationale Tagung zurückgehende Sammelband ist ein vorzügliches Beispiel dafür, dass ein politischer Schlüsselbegriff - in diesem Fall der Terminus "Protektion" - durch die Zusammenführung von unterschiedlichen Perspektiven, Räumen, Epochen und methodischen Ansätzen deutlicher als bisher konturiert wird, sodass nachfolgende Forschungen auf ein neues, verbessertes Fundament zurückgreifen können.
Ausgehend von der Annahme, dass Protektion eine "zentrale zeitgenössische Kategorie zur Bezeichnung sowohl von asymmetrischen Beziehungen innerhalb von Herrschaftsverbänden wie auch zwischen außenpolitischen Akteuren" gewesen sei (10), werden in insgesamt 29 Beiträgen sowohl konzeptionelle Aspekte des Themas als auch zahlreiche illustrative Fallbeispiele präsentiert. Gegliedert sind die Aufsätze in insgesamt sechs Sektionen bzw. Kapitel, die jeweils mit einem resümierenden Kommentar abgeschlossen werden. Das erste Kapitel ("Semantiken des Protektionsbegriffs") ist primär begriffs- und ideengeschichtlicher Natur. Anhand von drei Studien zur politischen Theorie (Wolfgang E. J. Weber), politischen Sprache und Praxis in Frankreich (Anuschka Tischer) sowie zu den krisenhaften Entwicklungen in den Außenbeziehungen Savoyens um 1610 (Hillard von Thiessen) werden historische Semantiken des Protektionsbegriffs ausgelotet und anschließend zusammenfassend kommentiert (Claire Gantet). Bereits die Beiträge dieser Sektion lassen in exemplarischer Weise erkennen, dass mit dem Ausdruck Protektion eine große Spannbreite an Inhalten und Auslegungsmöglichkeiten verbunden war, welche die Versuche einer definitorischen Schärfung nicht leicht machen.
In den Beiträgen des zweiten Kapitels ("Ungleiche Außenbeziehungen") rücken asymmetrische Beziehungen in der auswärtigen Politik west- und südeuropäischer Akteure in den Blickpunkt (Matthias Schnettger, Tilman Haug, Andreas Affolter und Fabrice Brandli). Einen Schwerpunkt bilden hierbei die jeweiligen Beziehungen zur Krone Frankreich. Auch in diesem Zusammenhang gelangt man zu dem für die konkrete Forschungspraxis nicht unproblematischen Ergebnis, dass es angesichts der begrifflichen Diversität und heterogenen Praktiken oftmals schwerfallen dürfte, "jeweils die spezifische Rationalität zwischen Akteuren zu erfassen, die in Wendungen der Protektionssemantik zum Ausdruck gebracht wurde" (162), wie André Holenstein in seinem Kommentar zu Recht hervorhebt.
Dem Thema "Protektion fremder Untertanen" sind die vier Beiträge des dritten Kapitels gewidmet (Gabriele Haug-Moritz, Fabrice Micallef, Christoph Kampmann und Marc Belissa). Damit ist zweifellos ein hochaktuelles politisches Thema angesprochen, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung unter Hinweis auf die weltpolitische Lage und die Legitimationsstrategien Russlands im Ukraine-Konflikt betonen. Zudem lassen die Studien besonders nachdrücklich die religiösen Implikationen der Gesamtthematik des Bandes erkennen, die Heinrich R. Schmidt in seinem Sektionskommentar explizit hervorhebt: Religion war (und ist) ein beliebter Legitimationsgrund von protektionistischen Praktiken.
Insgesamt fünf Beiträge finden sich in der Rubrik "Protektion als Herrschaftsleistung" (Birgit Emich, Laurence Fontaine, Andreas Würgler, Horst Carl und Nadir Weber). Auch in diesem Kontext ist eine brisante tagespolitische Aktualität zu konstatieren, die bei der Planung der Tagung, so Barbara Stollberg-Rilinger in ihrem instruktiven Kommentar, noch gar nicht vorhersehbar war. Zu den russischen Legitimationsstrategien im gegenwärtigen Ukraine-Konflikt zählt nämlich auch und gerade der Hinweis auf den erforderlichen "Schutz russischer Bürger im Ausland" (327). Besonders anregend sind in diesem Kapitel die Erörterungen zum Verhältnis von Formalität und Informalität in asymmetrischen Beziehungen, das noch erhebliche Forschungsspielräume bietet.
Formen von "Protektion in fremden Rechtsräumen" werden in drei weiteren Beiträgen (Luca Scholz, Hanna Sonkajärvi und Guillaume Calafat / Roberto Zaugg) und einem bilanzierenden Kommentar (Christian Windler) behandelt. Dieser Themenkomplex erweitert nicht nur die traditionell stark beachteten mentalitätsgeschichtlich-anthropologischen Aspekte von "Fremdheit" um wichtige rechtsgeschichtliche Beobachtungen, sondern in dem Beitrag von Hanna Sonkajärvi werden zudem auch die wirtschaftlich-globalen Dimensionen von Protektionsverhältnissen angesprochen.
Einen Ausblick über die Frühe Neuzeit hinaus ermöglichen die drei Beiträge des letzten Kapitels "Protektion und Protektorate im langen 19. Jahrhundert" (Tanja Bührer, Wolfgang Egner und Alexander Keese). Gerade Untersuchungen zur kolonialen Herrschaftspraxis im 19. Jahrhundert vermögen aufzuzeigen, dass die Vorstellung eines linearen, nach dem Top-down-Prinzip funktionierenden Asymmetrieverhältnisses zwischen europäischen "Herrschern" (Protektoren) und "Unterworfenen" (Protegierten) zu kurz greift. Vielmehr müsse der Konstruktcharakter von Protektion und Protektoraten stärker analysiert werden, so die Forderung von Jörn Leonhard in seinem Abschlusskommentar.
Insgesamt gesehen ist es den Herausgebern gelungen, die Vielgestaltigkeit der - zumeist west- bzw. südeuropäisch orientierten - Einzelstudien in eine funktionierende Kapitelordnung einzugliedern und darüber hinaus mit einer erhellenden Einleitung nicht nur wesentliche Befunde des Bandes zusammenzufassen, sondern zugleich auch eine konzise Bestandsaufnahme der Forschung zu liefern. Auf dieser Grundlage wären nun vergleichbare Sammelwerke denkbar, die zum Beispiel auch den nord- und osteuropäischen Raum adäquat einbeziehen. Eine Bibliografie, ein Orts- und ein Personenregister runden den Band ab, wobei darauf hinzuweisen ist, dass es, wie im vorliegenden Fall, eher unzweckmäßig ist, auch Personen ins Register aufzunehmen, die lediglich als Verfasser und Verfasserinnen in den bibliografischen Angaben der Fußnoten auftauchen - es sei denn, man legt ernstlich Wert darauf, genau zu zählen, wer wie oft zitiert wird.
Diese Petitesse soll und darf aber nicht überdecken, dass mit dem vorliegenden Sammelband ein wichtiger Beitrag zur Erforschung eines schillernden Schlüsselbegriffs erarbeitet wurde, der im Hinblick auf konzeptionelle Stringenz und thematische Breite vorbildlich ist.
Michael Rohrschneider