Mathias Kluge (Hg.): Handschriften des Mittelalters. Grundwissen Kodikologie und Paläographie, Ostfildern: Thorbecke 2014, 200 S., eine DVD, zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-7995-0577-2, EUR 24,99
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Zu den aktuellsten Debatten innerhalb der Mittelalterforschung zählt die Frage nach dem Verhältnis zwischen der unter anderem durch die massive Digitalisierung von Archiv- und Bibliotheksgut bedingten Neuhinwendung beziehungsweise Rückkehr zu den Quellen in ihrer Material- und Originalgestalt (Stichwörter: digital und material turn) auf der einen Seite und dem Abbau von Professuren und Studienfächern für Historische Hilfswissenschaften an den deutschen Hochschulen auf der anderen Seite. Zugleich lässt sich das Aufkommen von neuen Studiengängen und Lehrstühlen konstatieren - hier ist vor allem von Dokument- beziehungsweise Editionswissenschaft und Digital Humanities die Rede -, die das "alte Wissen" wenigstens zum Teil weiterhin vermitteln, obwohl sie eigentlich neue Schwerpunkte setzen und andere Methoden in den Mittelpunkt stellen. Inwiefern sich "der alte Wein in neue Schläuche gießen lässt", und wie sich das Verhältnis von "alten" zu "neuen" Ansätzen in den universitären, institutionalisierten Zusammenhängen überhaupt gestalten wird, bleibt weiterhin Diskussionsthema. Vor dem Hintergrund dieser Debatten sind neue Hand- und Lehrbücher auf diesen Gebieten besonders zu begrüßen. Denn gerade praxisorientierte Einführungen in die traditionellen grundwissenschaftlichen Disziplinen spiegeln besser als rein wissenschaftliche Aufsätze oder monographische Abhandlungen die konkrete Lage des Fachs wider und können sich für die künftige Gestaltung des Verhältnisses von "alten" Hilfswissenschaften zu "neuen" Methoden/Lehrinhalten im Rahmen von einzelnen Kursen sowie ganzen Studiengängen als wegweisend herausstellen.
Bei dem vorliegenden, von Mathias Kluge herausgegebenen Band handelt es sich um eine Einführung in das Grundwissen zu Paläographie und Kodikologie, deren Innovationspotenzial nicht so stark in den Inhalten, sondern vielmehr in der Art ihrer Präsentation und Perspektivierung liegt. Der Band ist in zwei Teile gegliedert, wobei im ersten Hauptabschnitt die Herstellung und im zweiten die Untersuchung mittelalterlicher Handschriften im Mittelpunkt steht. Aus dieser Einteilung ergeben sich zwei unterschiedliche Herangehensweisen an die Materie, denn im ersten Hauptteil kommt die Perspektive eines mittelalterlichen Schreibers, Handschriftenherstellers oder -illuminators zur Geltung, während im zweiten Hauptabschnitt diejenige eines Handschriftenforschers des 21. Jahrhunderts ins Zentrum rückt. Der Band ist auf diese Weise so konzipiert, dass der Leser stets das Gefühl hat, vor einer konkreten Herausforderung zu stehen, die allerdings durch die Lektüre der einzelnen Abschnitte zu meistern ist. Das Ergebnis ist, zugespitzt formuliert, eine Art "hilfswissenschaftlicher Bildungsroman", der sich aufgrund der besagten kommunikativen Strategie sowie der zahlreichen Abbildungen nicht nur mit Gewinn, sondern sogar mit einem gewissen Vergnügen lesen lässt.
Im Hauptabschnitt zur Handschriftenherstellung wird der Leser in einem informativen Gang von der Auswahl des Schriftträgers bis zur Lagerung der hergestellten Handschrift geführt. In den ersten beiden Kapiteln (Konzeption/Vorbereitung des Schriftträgers, 9-35; 37-41) gehen Irmgard Fees und Werner Williams-Krapp auf die im Mittelalter verwendeten Materialien (Papyrus, Pergament, Papier und Wachs), auf die gängigen Herstellungsformate (Urkunde, Tafel, Codex und Rolle) sowie auf die handwerkliche Herrichtung von Lagen und die Gestaltung der einzelnen Seiten ein. Im dritten Kapitel (Textproduktion, 43-63) behandeln die beiden genannten Autoren und Thomas Engelke die konkrete Textproduktion von der Auswahl von Tinte und Feder bis zur Dauer des Herstellungsprozesses. Nach zwei etwas kürzeren Abschnitten zur Illustration (65-71) und Bindung (73-82) setzt sich Mathias Kluge im sechsten und letzten Kapitel des ersten Hauptteiles (85-112) mit der Frage der Überlieferungsabsicht sowie mit der Aufbewahrung des Schriftguts in mittelalterlichen Archiven und Bibliotheken auseinander.
Christoph Flüeler führt im ersten Kapitel des zweiten Teils den Einsteiger in die Beschäftigung mit Handschriften ein, indem er auf die Zitierweise handschriftlicher Quellen sowie auf deren Auffindbarkeit in Netz und Archiven eingeht (115-124). Ein "handwerklicher" Ansatz ist auch in den folgenden, durch den selben Autor und Julia Knödler verfassten Kapiteln vorhanden, in denen es um grundlegende paläographische und kodikologische Techniken wie das Transkribieren, das Auflösen von Abkürzungen und das Erkennen von Schriftformen und individuellen Schriften geht (127-151; 153-161). In einem letzten Abschnitt präsentiert Norbert Ott das Verhältnis zwischen Text und Bild in volkssprachlichen Handschriften des Spätmittelalters (161-192). Abgeschlossen wird der Band durch eine bibliographische Auswahl, die sich allerdings auf Titel beschränkt, die für den Einsteiger tatsächlich infrage kommen (193-197). Eine stärkere Berücksichtigung des online-Angebots und die Erwähnung der maßgeblichen internationalen Erschließungsprojekte wie beispielsweise die Codices latini antqiuiores, die Chartae latinae antiquiores und die Manuscrits datés wäre in diesem Zusammenhang nicht unnütz gewesen. Dem Band ist abschließend noch eine CD mit sieben einführenden Lehrfilmen beigefügt.
Trotz der grundsätzlich überzeugenden Struktur des Bandes erwecken einige konzeptionelle Aspekte Bedenken. Fraglich ist zunächst, ob das Unterkapitel zu den Urkundenschriften (55-61) ins Konzept eines den Codices gewidmeten Abschnitts richtig hineinpasst. Sinnvoll wäre es vielleicht gewesen, die Produktion von Urkunden in einem gesonderten Kapitel zu behandeln, auch um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Handschriftenproduktion deutlicher hervorzuheben. Angesichts ihrer Bedeutung in der mittelalterlichen Handschriftenkultur hätten außerdem auch Chartulare größere Aufmerksamkeit verdient. In gleicher Weise bildet auch das Unterkapitel zu Text und Bild (161-192) gewissermaßen einen Fremdkörper im Rahmen eines "nutzerorientierten" Abschnitts. Wie in paläographischen Einführungen zu oft der Fall, nehmen abschließend frühmittelalterliche Schriften auch in diesem Band eine im Vergleich zu den späteren graphischen Formen allzu gewichtige Stellung ein, was angesichts der Überlieferungslage und der konkreten Erschließungsmöglichkeiten nicht immer nachvollziehbar ist.
Auch inhaltlich lassen sich einige Kritikpunkte anbringen. Dass die Urkundenschriften etwas feierlicher und sauberer als die meisten Buchschriften sind (55), kann doch höchsten für den nordalpinen Bereich und das Hochmittelalter gelten, denn die überwiegende Mehrzahl der früh- und spätmittelalterlichen südalpinen Carte und Notariatsinstrumente wurde ohne großen Anspruch auf Lesbarkeit und Feierlichkeit angefertigt. Nicht wirklich nachvollziehbar sind auch manche Feststellungen im Abschnitt zur Auflösung von Abkürzungen: Es ist zum Beispiel irreführend, die 9-förmige Sigle und die hochgestellte 2 als typische Beispiele für feststehende Zeichen anzuführen und sie grundsätzlich von veränderlichen Zeichen wie diejenigen für pre/pra oder per/par zu unterscheiden (133), denn bekanntlich stehen die erst genannten Kürzungen nicht nur für con und ur, sondern auch für cum und er/ar/ir. Der waagrechte Stricht über dem p ist im Übrigen nicht mit per oder par, sondern mit pre oder pra aufzulösen.
Obwohl sicherlich vermeidbar, wirken sich diese Ungenauigkeiten nicht wesentlich negativ auf die Gesamtbewertung des Bandes aus. Zweifellos zu begrüßen sind aus methodischer Sicht die Betonung der Rolle von Archiven und Bibliotheken für die Herausbildung der Überlieferung und somit für die Formung unseres Geschichtsbildes sowie die Deutung mittelalterlicher Schriften als "Formen" statt als fast "biologische Arten". Es überzeugen die doppelte Perspektivierung (aus Sicht des mittelalterlichen Menschen und des heutigen Forschers), die Reichhaltigkeit an (illustrierten) Beispielen, die Heranziehung von kultur- bzw. wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen und generell der praxisorientierte Ansatz, der vor allem in den Abschnitten zu Handschriftensuche (115-124) und Schriftvergleich (154-161) zum Ausdruck kommt. Es ist zu hoffen, dass diese Impulse, vor allem im Hinblick auf eine unerlässliche Kooperation mit Archiven und Bibliotheken, in der universitären Lehre zum Tragen kommen. Auch von dieser methodischen Priorisierung hängt die Zukunft der Hilfswissenschaften ab.
Étienne Doublier