Thomas R. Grischany: Der Ostmark treue Alpensöhne. Die Integration der Österreicher in die großdeutsche Wehrmacht, 1938-45 (= Zeitgeschichte im Kontext; Bd. 9), Göttingen: V&R unipress 2015, 327 S., ISBN 978-3-8471-0377-6, EUR 50,00
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Thomas Grischany hat ein mutiges und ambitioniertes Projekt durchgeführt, indem er sich einem Aspekt österreichischer (sic!) Geschichte widmete, der bisher noch schwach durchleuchtet ist. Im vorliegenden Buch beschäftigt sich Grischany mit der Frage nach der Integration von 1,3 Millionen "österreichischen" Soldaten in die deutsche Wehrmacht. Alleine das Wort Integration im Untertitel lässt eine Kontroverse erwarten, war und ist doch das österreichische Geschichtsbild zu einer überwiegenden Mehrheit von der Isolation und Unterdrückung der "Österreicher" innerhalb der deutschen Streitkräfte geprägt. Dieser kritische und notwendige Perspektivenwechsel wird auch von den beiden prominenten Vorwortschreibern John Boyer (University of Chicago) und Oliver Rathkolb (Universität Wien) herausgestrichen. Das vorliegende Werk umfasst 327 Textseiten, die neben Einleitung und Resümee in sechs Kapitel gegliedert sind. Die Nachlässe von österreichischen Militärs, die größtenteils im österreichischen Kriegsarchiv (Wien) hinterlegt sind, bilden das quellentechnische Rückgrat dieser Arbeit, sinnvoll ergänzt durch die vom Autor durchgeführten Zeitzeugeninterviews.
Im ersten Kapitel (35-67) greift Grischany zunächst bis zu den Schlesischen Kriegen im 18. Jahrhundert zurück und liefert einen ersten Höhepunkt der Arbeit, weil er den Untersuchungsgegenstand als profunder Kenner deutscher und österreichischer Geschichte gekonnt in einen weiten historischen Kontext einbettet. Bei den Unterkapiteln über die "formale Eingliederung des Bundesheeres" und die "Verteilung der Österreicher in der Wehrmacht" sowie in Kapitel 2 über "Reibungen" und "Schikanen" (56-84) kann sich der Autor fallweise noch auf einige wissenschaftliche Publikationen stützen.
Danach betritt der Autor mit der Analyse und Interpretation von Integrationsmechanismen, die den Kameraden "Schnürschuh" zum loyalen Wehrmachtsangehörigen wandelten, über weite Strecken wissenschaftliches Neuland. Für die erste Kriegsphase von 1939 bis Sommer 1941 - also die Zeit der kurzen und erfolgreichen Blitzkriege - destilliert Grischany drei Hauptfaktoren heraus, welche die Integration der "Österreicher" in die deutsche Wehrmacht begünstigten (115-154). Dies sind gemeinschaftsbildende Faktoren, welche die Kriegführung im Allgemeinen mit sich bringt, der spezifische Charakter der Blitzkriege, also schnelle militärische Erfolge, erkämpft unter vergleichsweise geringen Verlusten, und die Konsequenzen der erfolgreichen Kriegführung. Unter letzteren ist die Besatzungszeit zu verstehen, die im Falle Frankreichs stark an Urlaub erinnern konnte, wie Grischany mit einem besonders aussagekräftigen Zitat zu verdeutlichen versucht: "Abgebrannt wie ein Neger liege [ich] alle Tage in der Sonne und denke auf nichts anderes als auf das Essen" (131). Die militärischen Leistungen in und um Narvik 1940 brachten den "österreichischen" Gebirgsjägern dann auch die uneingeschränkte Anerkennung ihrer reichsdeutschen Kameraden und im Deutschen Reich eine große mediale Popularität.
An dieser Stelle muss auf eine Schwäche in der Quellenbasis - diese baut sehr stark auf Egodokumenten auf - hingewiesen werden. Anstatt bei der Auswahl der Quellen aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv den Fokus klar auf die Auswertung der Akten von Truppenkörpern zu legen, fließen auch aus dem Freiburger Archiv zahlreiche Erlebnisaufsätze von Soldaten ein, die zur Publikation in NS-Medien vorgesehen waren oder bei denen es sich um Zeitungsausschnitte aus der Zeit des NS-Regimes handelt. Damit lässt sich zwar zeitgemäße Stimmung einfangen, aber die starke Beweisführung über Egodokumente birgt die methodische Gefahr von induktiven Schlüssen (Kapitel 4).
Im fünften Kapitel "Von 'Barbarossa' bis 'Bagration'" behandelt Grischany den Zeitraum von Sommer 1941 bis Sommer 1944, widmet sich der Fortwirkung von Integrationsmechanismen und macht neue integrative Kräfte aus. In den Unterkapiteln "Vertiefte Kameradschaft" und "Eine wahrhaft 'großdeutsche' Wehrmacht?" (232-243) argumentiert er stringent, dass in der zweiten Kriegsphase "österreichische" Soldaten aufgrund ihrer stetig zunehmenden Integration von ihren reichsdeutschen Kameraden praktisch ununterscheidbar geworden waren (242). Hierbei betont er den Faktor Zeit und den Faktor Raum in dem Sinne, dass die Integration umso fortgeschrittener war, je länger die Betroffenen gedient hatten, und umso gelungener war, je weiter entfernt die Soldaten vom Drill des Kasernenhofes waren. Hier kann mit der Faustregel argumentiert werden, dass die Intensität der Gemeinschaftsbildung mit der Nähe zu echten Kampfhandlungen verstärkt wird. Klugerweise bezieht der Autor in seine Analyse auch gruppendynamische Prozesse mit ein. Eine innere Emigration eines Individuums mitten im gegnerischen Land hätte den sozialen Ausschluss aus der engeren Gemeinschaft und damit eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für den physischen Tod bedeutet. Die Unterordnung und Integration in die Gruppe boten Anerkennung und Schutz und stellten einen wesentlichen Faktor für das Überleben im Krieg dar.
Im letzten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Kapitulation des Deutschen Reichs und dem Vermächtnis der Wehrmacht. Hier argumentiert Grischany schlüssig, dass unter "österreichischen" Soldaten - im Gegensatz zu Zivilisten - bis zum Kriegsende ein Österreich-Bewusstsein kaum nachzuweisen war und dass sie loyal und vielfach bis zuletzt in den Reihen der Wehrmacht kämpften. Zum Integrationsprozess stellt der Autor fest, dass dieser durch die Niederlage der Wehrmacht "gewaltsam von außen" beendet wurde (293).
Die politischen Eliten der wiederhergestellten Republik Österreich konstruierten nach Kriegsende die - überraschend erfolgreiche - offizielle Opferthese, deren Quintessenz mit dem Satz zusammengefasst werden kann: "Österreich war das erste Opfer und Deutschland der alleinige Täter". So verständlich die vollkommene Distanzierung von Deutschland und seinen Institutionen aus politischen Gründen war, so wenig entsprach sie der Erinnerungswelt vieler ehemaliger Wehrmachtsangehöriger österreichischer Provenienz. Sie legten ihre Kriegserlebnisse im Kameraden-, Freundes- und Familienkreis dar. Manche österreichische Bundes- und Landespolitiker würdigten sie bei Gedenkveranstaltungen für ihre Pflichterfüllung und für ihren Kampf um das Vaterland, was darunter im Einzelfall auch immer verstanden worden sein mag. Es war eine paradoxe Situation, die die Historikerin Heidemarie Uhl zutreffend mit "Gefallenengedenken als Antithese zur Opfertheorie" beschrieben hat. Der österreichische Bundespräsidenten-Wahlkampf 1986, bei dem der Kandidat und ehemalige Wehrmachtsoffizier Kurt Waldheim erklärte, er habe im Krieg wie viele andere Österreicher seine Pflicht als Soldat getan, und die zwei Wehrmachtsausstellungen haben die Widersprüchlichkeit der österreichischen Opferthese auch international zu Tage treten lassen.
Das offizielle Österreich - an dieser Stelle formuliert der Rezensent eine wissenschaftspolitische Forderung - hat, abgesehen von einigen wenigen Lichtblicken, bis heute kein Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte der 1,3 Millionen "österreichischen" Wehrmachtsangehörigen im Zweiten Weltkrieg. Auch besteht kein Interesse, die Nachwirkungen im Zweiten Österreichischen Bundesheer, in dem 1960 von insgesamt 1600 Offizieren immerhin 860 in der Wehrmacht ausgebildet worden waren, zu untersuchen. [1] Die umfassende Geschichte von "österreichischen" Soldaten im Zweiten Weltkrieg muss noch geschrieben werden. Thomas Grischany hat die Integrationsmechanismen zwischen 1938 und 1945 intelligent analysiert und stringent interpretiert und mit dem vorliegenden Buch, das wärmstens zur Lektüre zu empfehlen ist, einen ersten wichtigen Schritt getan.
Anmerkung:
[1] Erste interessante Ansätze wurden publiziert von Bastian Matteo Scianna: Rebuilding an Austrian Army: The Bundesheer's Founding Generation and the Wehrmacht Past, 1955-1970; in: War in History, 15. September 2017 (online).
Richard Germann