Philipp Mittnik: Holocaust-Darstellung in Schulbüchern. Deutsche, österreichische und englische Lehrwerke im Vergleich, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2017, 282 S., ISBN 978-3-7344-0425-2, EUR 29,90
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Das Themenfeld 'Nationalsozialismus' ist nach wie vor ein außerordentlich wichtiger und relevanter Teil des Bildungsbereichs der westlichen Welt. Die Erfahrungen vom Zweiten Weltkrieg, vom Nationalsozialismus und von der Judenverfolgung/-vernichtung sind Schlüsselelemente bei der sozialen, moralischen und politischen Gestaltung unserer Gesellschaften. In den meisten europäischen Ländern beschäftigen sich Geschichts- und Geschichtsschulbücher intensiv mit diesem Teil der Vergangenheit.
Philipp Mittnik hat dazu mit seiner empirischen Analyse von insgesamt 30 deutschen, englischen und österreichischen Schulbüchern aus den Jahren zwischen 1980 und 2012 einen wichtigen Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs geliefert. Seine leitende Problemstellung zielt darauf, wie sich die Schulbuchdarstellung zum Thema 'Nationalsozialismus' in den drei Ländern verändert hat. Mittniks Analyse befasst sich nicht nur mit Schulbüchern aus drei verschiedenen Regionen, sondern fügt dazu auch noch eine diachrone Komponente bei (1980-2012). Zusätzlich werden didaktische Entwicklungen (Kapitelunterteilungen, Analyse der Oberflächenstruktur, Analyse der Arbeitsaufträge, Multiperspektivität, Abbildungen) durchforscht und inhaltliche Aspekte wie die Darstellung von Opfergruppen und Tätern, die Besprechung des Genozidprozesses, die Volksgemeinschaft oder das Vorkommen von Frauen in den Schulbüchern analysiert und besprochen.
Mittniks Werk, das aus seiner Dissertationsschrift hervorging, enthält mehr als die empirische, qualitative und quantitative Inhaltsanalyse der Schulbücher. Er bespricht zuerst allgemein geltende Konzepte der Geschichtsdidaktik im Zusammenhang mit der Forschungsmethodik zu Lehrmitteln, dann die curricularen Strukturen zur NS-Geschichte in den drei Ländern und konzentriert sich auf die Schulbücher der Sekundarstufe I. Selbstverständlich kann man dieses Verfahren durchaus billigen, obwohl man auch für eine Analyse von Schulbüchern plädieren könnte, die in der Sekundarstufe II benutzt werden (Altersgruppe über 15 Jahre). Der Vorteil wäre, dass die Themen 'Nationalsozialismus' und 'Holocaust' in den Lehrmitteln vertieft angeboten werden, sodass die qualitative Inhaltsanalyse, die von Mittnik benutzt wird, ergebnisreichere Daten versprechen würde, was der Autor aber ebenso wenig aufgreift wie die Rolle der NS-Geschichte in anderen Unterrichtsfächern.
Es ist interessant zu beobachten, wie die verschiedenen bildungsbezogenen und didaktischen Traditionen sich in den untersuchten Staaten unterscheiden; dazu ist es bemerkenswert, wie das Thema 'Nationalsozialismus' in Schulbüchern der beiden 'Täternationen' sich im Vergleich zur 'Siegernation' England anders gestaltet. Heutzutage ist der Gedanke, Geschichte aus mehreren Perspektiven zu unterrichten, in den Lehrplänen vieler westlicher Nationen zentral. [1] In den von Mittnik analysierten englischen Geschichtsschulbüchern werden die Prinzipien der Multiperspektivität, Kontroversität und Pluralität aber nicht berücksichtigt. So könnte es dazu kommen, wie die Britische Zeitung 'The Guardian' im Januar 2018 kommentierte, dass die jüngsten Kriegsfilme, wie 'Darkest Hour' (über die Rolle Churchills) oder 'Dunkirk', in ihrem Patriotismus und ihrer Charakterpräsentation völlig konventionell und einseitig bewertet werden. Sie deuten darauf hin, dass England sich zu seiner modernen Geschichte beglückwünscht - eine Idealisierung der Vergangenheit, die unbequeme Tatsachen ignoriert. [2] Solche Sichtweisen führen grundsätzlich zu einer zu starken Vereinfachung der historischen Entwicklungen im Allgemeinen und des Zweiten Weltkriegs im Besonderen und berühren kaum die Komplexität, Multiperspektivität und Moral von vielschichtigen Ereignissen wie dem Nationalsozialismus oder dem Holocaust. Mittnik zeigt, dass in den von ihm untersuchten Lehrmitteln akademische Zweifel selten auftauchen, vor allem weil pädagogische Klärung wichtiger erscheint als erkenntnistheoretische Reflexion. Diese widersprüchlichen 'Agenturen' (klärende Texte versus Erforschung verschiedener Perspektiven) werden in der Schulbuchkonzipierung oder Schulbuchforschung nicht immer vollständig verstanden.
Es gibt mehrere Gründe, warum dieser vergleichende Ansatz, den Philipp Mittnik wählt, wertvoll sein könnte. Er kann mehr Aufschluss darüber geben, inwieweit die nationalen Kontexte der Schulbücher eine Rolle bezüglich deren Inhalte, allgemeinerer Entwicklungen, wie der sozialen und politischen Kontexte, oder der Didaktik der Geschichte spielen. Durch den Vergleich von Geschichtsschulbüchern aus einem ehemaligen 'Siegerstaat' und ehemaligen 'Täterstaaten' lässt sich sehr spezifisch die Art und Weise andeuten, inwiefern 'Täterländer' für die begangenen Verbrechen Verantwortung übernehmen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, wie diese Nationen den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust in den Nachkriegsjahren dargestellt haben. Der Autor erwähnt zum Beispiel, dass die Fernsehserie 'Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss' (1978) einen konzeptionellen Wandel in der Geschichtsdidaktik verstärkt habe, ohne aber zu erklären, worin dieser 'Wandel' bestand und wie dieser Wandel die Geschichtsbildung in der Bundesrepublik Deutschland beeinflusst hat. Das gleiche gilt für die Waldheimaffäre in Österreich und die Ausstrahlung des Films 'Schindlers Liste' in England. Darüber hinaus scheinen diese Medienereignisse Auswirkungen auf den Umgang der westdeutschen oder österreichischen Gesellschaften mit dem Holocaust gehabt zu haben und weniger auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus. In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Arbeit sich noch mehr auf englischsprachige Quellen hätte stützen können. Die Berücksichtigung der Forschungsarbeiten von Nicholls, Foster und Crawford, Repoussi und Tutiaux-Guillon sowie Foster und Burgess hätte andere Perspektiven auf internationale Schulbuchvergleiche und deren Methodik werfen können. [3]
Die vielleicht wichtigste Frage ist, warum es in den von Mittnik analysierten Lehrbüchern solche offensichtlich unterschiedlichen Perspektiven in Bezug auf Darstellungen des Nationalsozialismus gibt. In den analysierten Geschichtsschulbüchern ist immer noch eine Dominanz der politischen Geschichte zu erkennen; warum das so ist, wird leider kaum erläutert. Die aktuellen Lehrwerke in Deutschland und Österreich orientieren sich mehr an der Sozial- und Alltagsgeschichte und verknüpfen das geschichtliche Thema 'Nationalsozialismus' auch mit aktuellen Gesellschaftsphänomenen wie Rechtsextremismus oder modernem Antisemitismus. In englischen Schulbüchern spielt der Gegenwartsbezug hingegen eine sehr geringe Rolle; hier wird der Nationalsozialismus vorgestellt als ein historisches und eher deutsches Phänomen. In allen untersuchten Lehrbüchern haben die Täter ein 'Gesicht', - zwar mangelhaft dargestellt und geprägt von einem Hitler-Zentrismus, der kaum mehr dem aktuellen Forschungsstand entspricht - verschiedene Opfergruppen wie Homosexuelle, sowjetische Kriegsgefangene oder polnische Intelligenz werden jedoch kaum erwähnt.
Sofern man an den Ursachen dieser Unterschiede und Entwicklungen interessiert sein sollte, gibt Mittniks Studie in dieser Hinsicht eher bescheidene Antworten. Es bleibt im Großen und Ganzen bei der empirischen Analyse, manchmal ohne erklärende Strukturierung. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Analyse sich mit einer enormen Anzahl von Daten, Fakten und empirischem Material befasst, die nur bedingt in einem zusammenfassenden Erklärungsmodell darzustellen sind. Einzelne 'Ausflüge' in ein Geschichtsschulbuch aus der DDR, oder die Darstellung des Themenbereichs 'Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg' in Lehrwerken der österreichischen Primarstufe sind in diesem Zusammenhang eher überflüssig und verringern die Konsistenz des Forschungswerks. Die notwendigen Erklärungen für die Veränderungen in der Anzahl der Seiten, Quellen oder Illustrationen in den Schulbüchern der drei Länder fehlen insgesamt. Man hätte eine gründlichere Einbettung dieser Veränderungen in den historischen Kontext der Entwicklung kollektiver Erinnerungen in den drei Ländern und deren Umgang mit diesen Themen begrüßt. Insgesamt hätte man sich mehr Erklärung gewünscht und weniger Daten. Dafür gibt Philipp Mittniks Analyse genügend Stoff zum Nachdenken, und ausreichende Ausgangspunkte für ein weiteres Verfahren.
Letztendlich aber sind solche längsschnittartigen und vergleichenden Schulbuchanalysen, wie die Dissertationsschrift von Philipp Mittnik, sehr wichtig, zugleich aber kaum vorhanden. Eine systematische, vergleichende und gründliche Untersuchung der Entwicklung dominanter Perspektiven auf den Holocaust in Geschichtsschulbüchern gibt es ebenfalls kaum. Es wäre wünschenswert, wenn Spezialisten wie der Autor ein oder zwei Empfehlungen für die Erstellung von Lehrbüchern und die Verbesserung der Lehrbuchqualität und über weitere Forschungen in diesem Bereich gegeben hätte: Es wäre eine Antwort auf Defizite bei mangelnder Integration nicht-europäischer Einwanderer, die europäische Einigung oder die Globalisierung generell. Viele glauben, dass Nationen homogene kulturelle Gemeinschaften integrieren sollten, und dass der soziale Zusammenhalt und die kulturelle Einheit der Nation durch Migrationsprozesse oder Globalisierung gefährdet sind. Der Einblick in die Fragilität der menschlichen Zivilisation sollte daher in der Geschichtsbildung ein Anliegen sein. Viele Schulbücher aber haben Schwierigkeiten, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust als internationale Ereignisse im Kontext der europäischen oder westlichen Geschichte zu positionieren.
Anmerkungen:
[1] Vergleiche unter anderem Wilna Meijer: Plurality and commonality in basic education, in: Paedagogica Historica 29 (1993), 767-775; Klaus Bergmann: Multiperspektivität: Geschichte selber denken, Schwalbach / Ts. 2000; Robert Stradling: Multiperspectivity in history teaching: A guide for teachers, Strasbourg 2003.
[2] Ian Jack: Dunkirk and Darkest Hour fuel Brexit fantasies - even if they weren't meant to, in: The Guardian, 27.01.2018, https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/jan/27/brexit-britain-myths-wartime-darkest-hour-dunkirk-nationalist-fantasies (zuletzt aufgerufen am 08.03.2018).
[3] Vergleiche auch Sam Wineburg: Historical thinking and other unnatural acts: Charting the future of teaching the past, Philadelphia 2001; Stuart Foster / Keith Crawford: What Shall We Tell the Children, Greenwich 2006; Keith Crawford / Stuart Foster: War, Nation, Memory. International Perspectives on World War II in School History Textbooks, Charlotte 2007.
Marc van Berkel