Heike B. Görtemaker: Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach, München: C.H.Beck 2019, 528 S., 62 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-73527-1, EUR 28,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Martina Steber / Bernhard Gotto (eds.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford: Oxford University Press 2014
Hans von Dohnanyi: "Mir hat Gott keinen Panzer ums Herz gegeben". Briefe aus Militärgefängnis und Gestapohaft 1943-1945. Herausgegeben von Winfried Meyer, München: DVA 2015
Alfred Rosenberg: Die Tagebücher von 1934 bis 1944. Herausgegeben und kommentiert von Jürgen Matthäus und Frank Bajohr, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2015
Lars Lüdicke: Hitlers Weltanschauung. Von »Mein Kampf« bis zum »Nero-Befehl«, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
Elizabeth Harvey / Johannes Hürter / Maiken Umbach / Andreas Wirsching (eds.): Private Life and Privacy in Nazi Germany, Cambridge: Cambridge University Press 2019
Die Biografie Hitlers erfuhr in den vergangenen Jahren wieder einmal große wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Doch wie viel Neues lässt sich noch zum Leben und Wirken des Diktators sagen? Der Historikerin Heike Görtemaker zufolge einiges - sofern man die Perspektive durch den Blick auf seinen "Hofstaat" weitet. Hitler, so die Autorin, war keineswegs der unnahbare "Führer": Über die gesamte Dauer seiner politischen Karriere sammelte er einen Kreis von Vertrauten um sich, die einen exklusiven Zugang zu ihm hatten. Diese Gruppe sei bei Weitem nicht nur Staffage für Hitlers Inszenierung als Privatmann gewesen, sondern essenzielles Umfeld für den "Führer".
Völlig neu ist der Fokus auf Hitlers engste Umgebung nicht, wie beispielsweise Volker Ullrichs zweibändige Hitler-Biografie zeigt [1]. Ebenso sind einige Mitglieder des "Hofstaats" durchaus gut erforscht, insbesondere wenn sie hohe Ämter im "Dritten Reich" innehatten. Görtemaker geht es daher darum, den inneren Kreis als Gesamtes zu beschreiben und dessen Funktion für Hitler herauszuarbeiten. Das erste von drei Hauptkapiteln behandelt deshalb die Formierung der Gruppe. Deutlich wird, dass Hitler von Anfang an einen Kreis enger Vertrauter um sich sammelte und entschied, wer dauerhaft Zugang zu ihm hatte. Seit er zum Parteiführer avancierte, betrieb er gezielt Personalpolitik und umgab sich mit Anhängern, die eine konkrete Funktion bei seinem politischen Aufstieg erfüllen sollten. Waren es vor dem Hitler-Putsch noch vor allem Fahrer, Leibwächter und einige wenige private Vertraute, erfuhr der innere Zirkel ab 1925 gleich der NSDAP einen Professionalisierungsschub. Neben bewährten Kräften rückten nun auch junge Aufsteiger wie Joseph Goebbels in Hitlers Umfeld. Gerade die Analyse des Kreises nach der Landsberger Haft zeigt, dass es für Hitler ein entscheidendes Zugangskriterium gab: unbedingte Loyalität.
Neben bekannten Akteuren stehen im Buch auch einige bisher randständige Personen im Fokus. Dazu gehören für die Formierungsphase etwa Kurt Lüdecke, aber auch - wie Ilse Hess und andere - die Frauen des frühen Kreises. Letztere nimmt die Verfasserin als politische Akteurinnen ernst, was zum Verständnis dieser oftmals vernachlässigten Gruppe beiträgt. Auch die biografische Einführung sämtlicher Mitglieder des Kreises kommt insbesondere den bisher nur wenig erforschten Personen zugute - auch wenn das Wirken einzelner Akteure aufgrund der schlechten Quellenlage eher vage bleibt.
Im zweiten Hauptkapitel widmet sich die Autorin der Konsolidierung des "Hofstaats" nach der Machtübernahme. Wendepunkt und zugleich Lackmustest für dessen Loyalität gegenüber Hitler waren die Morde nach dem "Röhm-Putsch", an denen mehrere Vertraute Hitlers beteiligt waren. Parallel dazu wurde die später als "Berghofgesellschaft" bekannt gewordene Gemeinschaft durch junge Aufsteiger wie Albert Speer und Karl Brandt mit ihren Familien vervollständigt. Spätestens mit der Abriegelung des Obersalzbergs, Hitlers zweitem Regierungssitz, blieb der Kreis nun weitgehend unverändert: Neben den wenigen frühen Gefährten wie Julius Schaub oder Heinrich Hoffmann gehörten vor allem die Adjutanten, Sekretärinnen und Leibärzte sowie vereinzelt deren Bekannte dazu. Rund die Hälfte des "Hofstaats" war weiblich, so die Autorin. Ranghohe NSDAP-Funktionäre wie Goebbels oder Speer blieben eher die Ausnahme.
Görtemaker betont, dass sich das Verhältnis Hitlers zu seinem Kreis nach der Machtübernahme fundamental wandelte: Hatte Hitlers Umfeld ihn in den 1920er Jahren als Leibwächter, Leibfotografen oder Gönner unterstützt, so waren die Personen nun auf Hitler angewiesen. Die Gunst des Diktators verdienten sie sich unter anderen durch tatkräftiges Engagement. Hier weist die Verfasserin darauf hin, dass der "Hofstaat" teils tief in die Verbrechen des Regimes involviert war oder zumindest von ihnen wusste. Beispiele dafür sind die Novemberpogrome oder die Beauftragung Karl Brandts und Philipp Bouhlers mit der Durchführung des NS-Euthanasieprogramms. Auch im Krieg gelangten einige Mitglieder des inneren Kreises wie Albert Speer oder Martin Bormann in wichtige Positionen und hatten als ständige Gäste in den Führerhauptquartieren einen tiefen Einblick in Hitlers Handeln. Zugleich funktionierte der "Hofstaat" als Rückzugsraum für Hitler und als Echokammer, die ihn in seinen Ansichten und Plänen bestärkte. Selbst angesichts der drohenden Kriegsniederlage zeigten sich, wie die Verfasserin darlegt, nur vereinzelt Zerfallserscheinungen innerhalb des "Hofstaats". Der Großteil seiner Vertrauten hielt Hitler bis zum Schluss - und nicht selten darüber hinaus - die Treue.
Folgerichtig beschreibt das Buch abschließend den "Kreis ohne Führer" - die nach Kriegsende fortdauernden Verbindungen des einstigen "Hofstaats". Reflexionen über die eigene Schuld blieben erwartungsgemäß aus; stattdessen wurde die erlebte Zeit der Internierung durch die Besatzer dazu genutzt, sich selbst einen Opferstatus zuzuschreiben. In diesem, insgesamt recht kurzen Abschnitt, liegt der Schwerpunkt auf dem Kreis um Nicolaus von Below, zu dessen Privatnachlass die Autorin erstmals Zugang hatte. Ihr gelingt es, aufzuzeigen, dass die ehemaligen Mitglieder des "Hofstaats" auch nach 1945 den Kontakt zueinander pflegten und die Haltung sowie die verfassten Memoiren der anderen genau verfolgten.
Die Memoiren verweisen zugleich auf ein dem Thema immanentes Problem: Nur wenige Mitglieder des "Hofstaats" produzierten während der NS-Zeit eine größere Anzahl an Quellen, sodass spätere Aufzeichnungen und Publikationen diese Lücke füllen müssen. Zwar verweist die Autorin ausführlich auf deren apologetische Narrative und warnt vor Irreführungen, muss aber stellenweise dennoch auf diese zurückgreifen. Gleiches gilt für die kaum weniger problematischen Interviews und unveröffentlichten Aufzeichnungen einzelner Akteure aus der Nachkriegszeit. Trotz des kenntnisreichen Abwägens bleiben viele Aussagen somit zwangsweise vage. Dies gilt nicht zuletzt für die zentrale Frage nach Schuld und Mitwisserschaft, die zwar zu Recht herausgestellt wird, sich jedoch nur für einen Teil des "Hofstaats" eindeutig beantworten lässt. Somit verdeutlicht das Werk leider auch, dass zu einzelnen Personen aus Hitlers Umfeld kaum präzise - insbesondere neue - Erkenntnisse gewonnen werden können.
"Hitlers Hofstaat" bleibt dennoch mehr als eine Ergänzung zu den neueren Biografien über den Diktator. Der konsequente Fokus auf den Personenkreis zeigt, dass die Gruppe rasch eine ganz eigene Dynamik zugunsten des "Führers" in ihrem Zentrum entwickelte. Der "Hofstaat" war bei Weitem nicht nur Hitlers Rückzugsraum, sondern Teil von dessen Herrschaftspraxis. Ersichtlich wird, dass dieses Umfeld aus loyalen Vasallen Hitler zuarbeitete und damit direkt auf ihn einwirkte. Zudem macht das Buch deutlich: Trotz ihrer Heterogenität sollten die Mitglieder des "Hofstaats" als Akteure des NS-Regimes ernst genommen werden - selbst wenn sie nicht den obersten Funktionseliten angehörten. Insbesondere der Abschnitt über die Zeit nach 1945 regt zu einer intensiveren Betrachtung dieser Gruppe und ihres Wirkens an. Heike Görtemakers sprachlich souveräne Darstellung des inneren Zirkels sollte daher nicht nur auf das Interesse zukünftiger Hitler-Biografen treffen, sondern verdient eine breitere Leserschaft.
Anmerkung:
[1] Volker Ullrich: Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs, Frankfurt/M. 2013.
Sebastian Peters