Agnes Laba: Die Grenze im Blick. Der Ostgrenzen-Diskurs der Weimarer Republik (= Studien zur Ostmitteleuropaforschung; 45), Marburg: Herder-Institut 2019, X + 479 S., ISBN 978-3-87969-414-3, EUR 90,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Was den Römern angeblich Catos ceterum censeo, war der Weimarer Republik die Überzeugung, die durch den Versailler Vertrag geschaffene Ostgrenze des Deutschen Reiches müsse revidiert werden. Diesem gesellschaftlichen Konsens spürt Agnes Laba in ihrer nun veröffentlichten Dissertation nach. Anhand einer historischen Diskursanalyse verfolgt sie die Kernfrage, durch welche strukturellen und inhaltlichen Mechanismen sich jener Konsens über die Ablehnung der Ostgrenze in der Weimarer Demokratie etablieren konnte. Die Grundlage für diese Betrachtung bildet dabei die Annahme, dass Grenzen Konstruktcharakter aufweisen und erst als Ergebnis von Diskursen und sozialen Praktiken Geltung erlangen.
Das Quellenkonvolut der Arbeit umfasst neben der überregionalen Tagespresse und einigen ergänzend herangezogenen Archivbeständen insbesondere Einzelpublikationen der die Debatten prägenden Akteure, Erdkundeschulbücher und darin abgedruckte Karten. Besonderen Wert spricht Laba der Kombination von Bild- und Textebene zu, die dem Ostgrenzen-Diskurs erst seine "Spannbreite und Wirkungstiefe" (73) verliehen habe. Der Genese und dem Einsatz sogenannter "suggestiver Karten" als Werkzeuge der zeitgenössischen Publikationen widmet Laba folgerichtig besondere Aufmerksamkeit; diese Synthese zählt zusammen mit den Interpretationen einzelner Karten und dem hervorragend bebilderten Anhang zu den großen Stärken des Buches.
Die Verfasserin postuliert zwei Hauptthesen. Zum einen habe der Ostgrenzen-Diskurs durch seinen Verlauf und die darin entwickelten Narrative und Alternativkonzepte einer deutschen Ostgrenze den Boden für die expansive Raumpolitik des nationalsozialistischen Regimes bereitet, die letztlich "wie eine folgerichtige Weiterführung - ja Erfüllung - der Debatten der 1920er und frühen 1930er Jahre erscheinen musste" (6). Zum anderen habe die Auseinandersetzung um die Ostgrenze die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg diskursiv "überschrieben" und sei selbst zum Symbol für jene Niederlage avanciert (8). Dass sich diese beiden Thesen letztlich nicht getrennt voneinander betrachten lassen, sondern sich reziprok bedingen, zeigt der weitere Verlauf des Argumentationsgangs.
Ihrem doppelten Ansatz einer strukturellen und inhaltlichen Analyse folgend, steckt Laba, bevor sie mit der eigentlichen Textarbeit beginnt, ihr umfangreiches Diskursfeld ab und identifiziert drei zentrale Akteursgruppen: Ein sinnvoller Fokus liegt auf den akademischen Geowissenschaften, innerhalb derer zum einen die Zeitschrift für Geopolitik um Karl Haushofer, zum anderen die Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung um Albrecht Penck und Wilhelm Volz meinungsprägend waren. Als dritte Akteursgruppe mit wichtigen Verbindungen zur Politik und zum sogenannten "Auslandsdeutschtum" greift Laba das "jungkonservative Diskursfeld" heraus, das in der Zeitschrift 'Volk und Reich' sein Sprachrohr sowie in Karl Christian von Loesch und Max Hildebert Boehm seine prägendsten Vertreter hatte.
Die zentralen Begriffe, die Laba durch die verschiedenen Teildiskurse verfolgt, sind "Delegitimierung" und "Emotionalisierung" der Ostgrenze. Als Kristallisationspunkte wählt die Verfasserin die gängigen Beispiele Ostpreußen, "Korridor" und Oberschlesien und arbeitet drei Hauptphasen heraus. In der ersten Phase, um den Jahreswechsel 1918/19, etablierte sich der zentrale Topos einer "ungerechten Grenze", der das Fundament aller weiteren delegitimierenden Diskursstrategien bildete. In der zweiten Phase, während der Volksabstimmungen, fokussiert Laba darauf, wie den Plebisziten sich wandelnde Bedeutungen zugeschrieben worden sind: Erst aufgrund der eindeutigen Wahlentscheidungen zugunsten des Deutschen Reichs wurden die Abstimmungen retrospektiv als Argument zur Delegitimierung der Ostgrenze herangezogen. In der dritten Phase, die sich rund um die Verhandlungen zu den Verträgen von Locarno ansiedeln lässt, trat vor allem der emotionalisierende Topos vom "Grenzland" als Konfrontationszone in den Mittelpunkt. Aus Sicht der Diskursteilnehmer standen sich die als Organismen begriffenen Staaten an ihren Grenzen in einer existenziellen Auseinandersetzung um "Lebensraum" gegenüber. Die Nachzeichnung der Tiefenwirkung der aus den Werken Friedrich Ratzels und Rudolf Kjelléns aufgegriffenen und insbesondere von Haushofer weitergesponnenen Annahme des Staates als Organismus, der sich ausweiten müsse oder ansonsten dem Untergang geweiht sei, zählt zu den besonders lesenswerten Passagen der Studie.
Unter dem Anschein wissenschaftlicher Objektivität der zentralen Akteursgruppen entwickelte sich so im Ostgrenzen-Diskurs eine offene Theoriebildung, die nicht den außenpolitischen Zwängen der Weimarer Republik unterlag und sich unter der Grundannahme einer Veränderlichkeit der "ungerechten" Staatsgrenze zu einer "Ersatz-Außenpolitik" (74) entwickelte. Innerhalb dieses Diskursfeldes hielten zunehmend eigene Ansätze zur Gestaltung und Abgrenzung eines deutschen "Wir-Raums" Einzug, die nicht mehr durch staatsrechtliche, sondern ethnische oder kulturelle Kriterien bestimmt waren und sich von einer revisionistischen in eine expansive Ausrichtung wandelten. In ihren konkreten Ausführungen blieben diese Alternativkonzepte allerdings vage, sodass sich die von Laba postulierten Anknüpfungsmöglichkeiten späterer rassischer Argumentationsstränge ergaben.
So überzeugend die Erkenntnisse aus der Kombination der strukturellen mit der inhaltlichen Analyse des Ostgrenzen-Diskurses auch sind, bringt die strikte darstellerische Trennung von Akteuren und Debatte doch drei gewichtige Probleme mit sich: Zum Ersten verlangt dieser Ansatz einen hohen Grad an Syntheseleistung aus der Sekundärliteratur, hinter dem eine genuine, innovative Quellenarbeit insbesondere im ersten Teil der Studie zu sehr ins Hintertreffen gerät. Dies schmerzt gerade deshalb, da die vorhandenen Interpretationen von Quellentexten und "suggestiven" Kartendarstellungen und deren Breiten- und Tiefen-wirkungen den größten Erkenntnisgewinn der Studie über die bereits wohlerforschten Facetten des Diskurses hinaus bieten. Zum Zweiten zwingt die Struktur zu Redundanzen, führt aber, zum Dritten, gleichzeitig zu teilweise unklaren Gewichtungen. Zwar werden einige Einzelaspekte, wie etwa die Staatsbürgerschaftspraxis (Kapitel V.3.3.1), in sich schlüssig und durchaus tiefgreifend argumentiert, ihre Einordnung in den Gesamtkontext der Fragestellung wird aber nur unzureichend deutlich. Andere Themen, die zentraler erscheinen, werden dagegen nur oberflächlich angerissen. So bleibt etwa das "jungkonservative" Milieu im Gegensatz zu den anderen Akteuren recht unscharf. Darüber hinaus wird zwar die für den deutschsprachigen Raum grundlegende Studie von Gernot Briesewitz zur polnischen Westforschung rezipiert, die polnische Seite in dem als existenziell wahrgenommenen Grenzkonflikt kommt in den Ausführungen jedoch kaum zu Wort. Insgesamt verharrt die Studie auf einem zentralen Blickwinkel, der eine Vor-Ort-Perspektive lokaler Akteure an der deutschen Ostgrenze nicht einbezieht.
Die Stärken der Studie liegen somit in ihrer intellektuell beeindruckenden und sprachlich sehr gut lesbaren Syntheseleistung, die in der Quantität der Tiefenanalyse genuin primärer Quellen noch Raum für Ergänzungen offenlässt. Mit den Anregungen aus dieser Studie bleibt ein Blick auf die Ostgrenze damit auch zukünftig lohnenswert.
Johanna Bichlmaier