Stefan Wolle: Ost-Berlin. Biografie einer Hauptstadt, Berlin: Ch. Links Verlag 2020, 272 S., ISBN 978-3-96289-084-1, EUR 25,00
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Die Geschichte des geteilten Berlins erfreut sich eines steigenden Interesses. Dies zeigt nicht nur enorme Publikumserfolg der beiden Ausstellungen zu West- und Ost-Berlin, die das Berliner Stadtmuseum 2014 und 2019 gezeigt hat, sondern auch eine wachsende Zahl populärer Darstellungen, die den beiden Stadthälften gewidmet sind. Nach Elke Kimmels "West-Berlin. Biografie einer Halbstadt" [1] und Jürgen Danyels Anthologie "Ost-Berlin. 30 Erkundungen" [2] liegt nun ein weiterer Band vor, der die Biografie einer der beiden Teilstädte im Kalten Krieg erzählt.
Mit Stefan Wolle konnte ein ausgewiesener Historiker mit eleganter Feder als Autor gewonnen werden. Wolle hat sich nicht nur als DDR-Forscher und wissenschaftlicher Leiter des Berliner DDR-Museums einen Namen gemacht. 1950 in Halle an der Saale geboren und in Ost-Berlin aufgewachsen, kennt er die DDR-Hauptstadt auch aus eigenem Erleben und vereint somit die Perspektiven des Zeithistorikers und des Zeitzeugen. So wählt er als Einstieg für sein Buch eine persönliche Anekdote und schildert eine Irrfahrt, die er als Zwölfjähriger durch das Ost-Berliner Stadtzentrum erlebt hat, als er auf der Suche nach einem ausgestopften Wal in den falschen Bus gestiegen ist. Aus dieser Urerfahrung der Verirrung leitet er im Sinne Walter Benjamins ab, dass nur Irrwege zu Entdeckungen führen. Auf diese Neuentdeckung Ost-Berlins möchte Wolle den Leser mitnehmen. Er vergleicht die Stadt angesichts der Zerstörungen und politischen Umbrüche mit einem mittelalterlichen Palimpsest, einem mehrfach überschriebenen Pergamentblatt. Der neugierige Flaneur stehe vor der Aufgabe, das Zeichensystem der Stadtlandschaft zu entziffern.
Allerdings nimmt Wolle den Leser nicht mit in den Stadtraum, sondern auf den Zeitstrahl. Seine Darstellung folgt weitgehend dem traditionellen chronologischen Narrativ einer Biografie und erzählt die Geschichte Ost-Berlins von der Bildung des sowjetischen Sektors über die Teilung der Stadt bis hin zur Hauptstadt der DDR und ihrer Vereinigung mit dem Westteil der Stadt 1990. Mit der chronologischen Darstellung bricht Wolle ein wenig mit den Erwartungen, die er in der etwas manierierten Einleitung weckt, in der er neben Heraklit und E.T.A. Hoffmann auch Hegels Dialektik bemüht: "Ost-Berlin existierte nur durch West-Berlin und umgekehrt. So hat Hegels Weltgeist in Berlin, dem Ort seiner akademischen Inauguration, ein Meisterstück der Dialektik geliefert." (21)
Die Stärke des Buches besteht in der genauen Beschreibung ausgewählter Ereignisse, in denen sich die Geschichte Ost-Berlins verdichtet. Besonders gut gelingt dies etwa beim Tag des freien Buches, der am 10. Mai 1947 vor der Berliner Universität Unter den Linden gefeiert wurde und an die Bücherverbrennung 14 Jahre zuvor erinnern sollte. Anhand des Ereignisses thematisiert Wolle die Rückkehr der Exilschriftsteller nach Berlin, ihre Hoffnungen und ihre Entscheidungen im aufziehenden Kalten Krieg. Alfred Kantorowicz, Heinrich Mann, Alfred Döblin und Anna Seghers stehen für unterschiedliche Wege aus dem Exil in das zunehmend geteilte Deutschland. Sie stehen zugleich für den kultur- und literaturgeschichtlichen Zugang, den Wolle in mehreren Kapiteln wählt und mit ereignisgeschichtlichen Perspektiven kombiniert.
Detailliert werden auch der 17. Juni 1953 und seine Vorgeschichte beschrieben. So schildert Wolle die Dampferfahrt des VEB Industriebau zum Müggelsee, auf der bereits am 13. Juni 1953 spontan zum Streik aufgerufen wurde, schon bevor sich die Situation in den folgenden Tagen auf den Baustellen des Krankenhauses Friedrichshain und der Stalinallee weiter zuspitzte. Die Darstellung der Ereignisse stützt sich auf Vernehmungsprotokolle und nimmt einzelne Akteure in den Blick. Das macht die Geschichte anschaulich, verschiebt in der Anlage des Buches jedoch die Proportionen. Während das Kapitel zur Stalinallee lediglich zwei Seiten umfasst, wird die Vorgeschichte des Streiks fast im Stil eines Minutenprotokolls wiedergegeben.
Anhand der X. Weltfestspiele der Jugend, die im Sommer 1973 in Ost-Berlin stattfanden, beschreibt Wolle die Ambivalenzen der DDR-Gesellschaft und ihrer Hauptstadt. So standen die lockeren Festspiele einerseits für die partielle Liberalisierung in der frühen Honecker-Ära. Andererseits ging mit den Weltfestspielen ein enormer Ausbau des Überwachungsapparats und ein "Großreinemachen" einher, in dessen Zuge vermeintliche Regimegegner weggesperrt oder aus der Hauptstadt ferngehalten wurden. Hier zeigt Wolle einmal mehr das komplexe Zusammenspiel von Liberalisierung und Repression in der "heilen Welt der Diktatur", der er sich in seinem gleichlautenden Standardwerk zu Alltag und Herrschaft in der DDR bereits ausgiebig gewidmet hat.
Dabei erliegt Wolle nicht der naheliegenden Gefahr, die Geschichte Ost-Berlins mit der Geschichte der gesamten DDR gleichzusetzen. Die Hauptstadt der DDR war sowohl Magnet als auch Feindbild und unterschied sich in vielem von den übrigen Bezirken der DDR. Wie verhasst Ost-Berlin wegen seiner Privilegien im Rest des Landes war, zeigt ein schöner Quellenfund, den Wolle ausgiebig wiedergibt: eine satirische Umdichtung des "Sachsenliedes" von Jürgen Hart und Arndt Bause, die 1980 an der Berliner Humboldt-Universität kursierte. Darin hieß es unter anderem: "Euer Dorf Berlin / Köönt ihr so groß offziehen, / weil wir euch unterstützen, / regieren und beschützen!" (200)
Der Hauptstadtkult kulminierte schließlich in der 750-Jahr-Feier Berlins, die in Ost-Berlin mit großem Pomp gefeiert wurde. Dabei stellt Wolle das Stadtjubiläum in den Zusammenhang mit weiteren Ereignissen des "merkwürdigen Jahrs 1987". Hierzu zählt er unter anderem die brutale Durchsuchung der Umweltbibliothek der Zionskirche sowie die West-Berliner Pfingstkonzerte an der Berliner Mauer, die auf der Ostseite tausende Fans anzogen, ehe die Staatsmacht massiv dagegen einschritt. Die Ereignisse stehen für das eigenartige Nebeneinander von Stabilität und Krise zwei Jahre vor dem Mauerfall, dem Wolle sich am Ende seines Buches ausgiebig widmet.
Die Biografie einer Hauptstadt, die Stefan Wolle erzählt, wird den zahlreichen Facetten Ost-Berlins insgesamt sehr gerecht. Das Buch ist flott geschrieben und lässt sich daher auch flott lesen. Der Autor ist über jeden Verdacht erhaben, einen nostalgisch verklärten Blick auf Ost-Berlin zu werfen. Es bleibt stets klar, dass die Halbstadt das Machtzentrum der SED-Diktatur war. Zugleich entwickelt Wolle einen differenzierten Blick auf den Ost-Berliner Alltag zwischen Altbau und Platte. Hervorzuheben sind schließlich die sorgsam ausgewählten Fotografien, die jedes Kapitel einleiten und die bildreiche Sprache des Bandes trefflich ergänzen.
Anmerkungen:
[1] Elke Kimmel: West-Berlin. Biografie einer Halbstadt, Berlin 2018.
[2] Jürgen Danyel (Hg.): Ost-Berlin. 30 Erkundungen, Berlin 2019.
Hanno Hochmuth