Rezension über:

Marcus Stiebing: Regionale Entscheidungsfindung zum Krieg. Die Weimarer Herzöge zwischen fürstlicher Beratung und gelehrtem Diskurs (1603-1623) (= Schriftenreihe zur Neueren Geschichte; Bd. 41), Münster: Aschendorff 2022, XIV + 418 S., ISBN 978-3-402-14774-0, EUR 63,00
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Rezension von:
Axel Gotthard
Department Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Axel Gotthard: Rezension von: Marcus Stiebing: Regionale Entscheidungsfindung zum Krieg. Die Weimarer Herzöge zwischen fürstlicher Beratung und gelehrtem Diskurs (1603-1623), Münster: Aschendorff 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/37901.html


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Marcus Stiebing: Regionale Entscheidungsfindung zum Krieg

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Fluchtpunkt der Dissertation ist die Entscheidung des Weimarer Herzogs Johann Ernst, den "Winterkönig" in Böhmen zu unterstützen. Bis der Leser das spannende Kapitel "Weimars Entscheidung für Friedrich V." erreicht, hat er freilich bereits 261 Seiten gelesen, und von den Wochen der Entscheidung um die Jahreswende 1619/20 handeln etwas weniger als dreißig Seiten. Wieso dieser lange Anlauf? Die ersten achtzig Seiten klären "Schlüsselbegriffe" rund ums "Entscheiden" sowie das "Anforderungsprofil" der Fürstenberater. Es folgt eine eingehende Darstellung von für das Haus Wettin relevanten reichspolitischen Vorgängen seit ca. 1530. Begründet wird das mit der Beobachtung, dass der 1619/20 wichtigste Ratgeber Johann Ernsts, Friedrich Hortleder, dem Herzog notorisch ein "Unrechtsnarrativ" zu unterbreiten pflegte, das bis in die Reformationsepoche zurückreichte, insbesondere herausstrich, welches Unrecht der ernestinischen Linie des Hauses Wettin nach dem Schmalkaldischen Krieg widerfahren sei. Ferner war für dieses "Narrativ" die Haltung der Hofburg zu innerdynastischen Querelen um und nach 1600 besonders wichtig. Die Beziehungen zwischen dem albertinischen Kurhof und den ernestinischen Teillinien (Weimar, Altenburg), insbesondere aber zwischen letzteren waren damals aus mehreren Gründen angespannt, die Hofburg entschied gegen die Ansprüche der Weimarer. Ganz auf der Seite ihres 'Helden', empört sich die Dissertation über die "parteiische Rechtsprechung des Reichshofrats" (187): "Der Fall belegt eindrucksvoll, dass Recht haben nicht zwangläufig hieß, Recht zu bekommen" (145). Diese weit ausholenden reichs- und landesgeschichtlichen Kapitel thematisieren vieles, von einer 1607/8 in Weimar grassierenden Pest bis hin zum Gesundheitszustand Kaiser Rudolfs II. oder der Geschichte Böhmens seit 1609: Man hätte schon straffen, konsequenter wahrnehmungsgeschichtlich verfahren und auf Hortleders "Unrechtsnarrativ" zuspitzen können.

Auf die Entscheidungsfindung um die Jahreswende 1619/20 versuchten gefragt wie ungefragt die Juristen zu Jena sowie die Theologen zu Jena und zu Wittenberg mittels akademischer Diskurse Einfluss zu nehmen, auch die Landstände wollten angehört werden. Fast alle erbetenen und ungebetenen Ratschläge warnten den Herzog vor der Parteinahme für Friedrich V. Die Juristen strichen heraus, dass Böhmen nicht zum Reich gehöre und der Augsburger Religionsfrieden deshalb dort gar nicht gelte. Den lutherischen Theologen genügten bedrängte Gewissen nicht als Kriegsgrund, Luthers Zwei-Reiche-Lehre scheint hier (jedenfalls gewann der Rezensent diesen Eindruck) den Denkrahmen abgesteckt zu haben. Doch setzte sich am Ende ein Ratgeber durch, der schon als Erzieher großen Einfluss auf den Knaben Johann Ernst gewonnen hatte: Friedrich Hortleder. Von seinem "Unrechtsnarrativ" war schon die Rede, er behauptete außerdem, der Augsburger Religionsfrieden habe auch in Böhmen Rechtskraft; wenn Ferdinand gegen den böhmischen Protestantismus vorgehe, seien das Angriffe auf den Religionsfrieden, denen vergleichbare Rekatholisierungsversuche in anderen Reichsterritorien auf dem Fuße folgen würden. Solchen Versuchungen müsse man präventiv vorbauen.

Während die Argumente Hortleders in der Dissertation ausführlich gewürdigt werden, bleibt ein anderer Ratgeber, der (als Reisebegleiter) ebenfalls schon auf den jugendlichen Johann Ernst Einfluss gewonnen hatte, blass: Johann Wilhelm Neumayr von Ramsla, der Autor einer politologischen Abhandlung über die "Neutralitet", die noch Lexika des 18. Jahrhunderts (und nicht nur deutschsprachige) als die maßgebliche Monographie zum Thema ausweisen würden. Sie erschien just 1620, und dem Rezensenten machen diverse Passagen sehr wahrscheinlich, dass Neumayr mit ihr auch tagesaktuell wirken wollte. Es ist schade, dass die Dissertation zwar einige Neumayr-Zitate bietet, sich aber nicht systematisch mit dieser interessanten frühen politologischen Studie auseinandersetzt. Überhaupt hat Stiebing von der vormodernen Neutralität schiefe Vorstellungen. Um 1600 beinhaltete sie keinesfalls vollständige Abstinenz und Äquidistanz, das Ausmaß ihrer Parteilichkeit war stets aufs Neue, abhängig von den momentanen Machtverhältnissen, auszuhandeln, hier stimmte der obligatorische Neutralitätstopos von der "Fahne im Wind". Auch thematisierten nicht etwa "einzelne Flugschriften" (273) diese Option im Dreißigjährigen Krieg, sondern deutlich mehr als hundert. Johann Ernst optierte gegen die Neutralität, ließ sich im Januar 1620 von Friedrich V. als Obrist anstellen. Bis zu seinem Tod im Dezember 1626 blieb auf der Seite des "Winterkönigs": Mit diesen letzten Lebensjahren befassen sich die Schlusskapitel der Dissertation.

Trotz der oben geäußerten Kritik verdient sie eine breite Rezeption. Der Autor hat sehr fleißig in Archiven recherchiert und zitiert ausgiebig aus seinen Aktenfunden. Deshalb stößt der Leser immer wieder auf Zitate, die für die Kriegsursachendiskussion und für die Frage nach dem Charakter des seit 1618 tobenden Krieges, ja, überhaupt für das damalige Denken über Krieg und Frieden instruktiv sind. Beispielsweise fällt, in der subjektiven Auswahl des Rezensenten, Licht auf diese Aspekte: Der Dreißigjährige Krieg 'fiel nicht vom Himmel' - kriegerische Entladungen der reichsinternen Spannungen wurden von aufmerksamen Zeitgenossen schon länger befürchtet, im Dezember 1615 prophezeite Johann Ernst, das Reich werde demnächst "in ein schendlich Blutbadt gesturzt" (zit. 182). Über jene Neutralität, die in den gängigen Darstellungen des Dreißigjährigen Krieges gar keine Rolle spielt, dachten tatsächlich viele Politiker nach, im April 1620 kritisierte Johann Ernst die "neutralitet fast aller Reichsstende" (zit. 273). Freilich rieb sich die als "weibisch" denunzierte Option, die sich noch nicht zur Völkerrechtsfigur verdichtet hatte, am altadeligen Ehrkodex (Akkumulation von Gloire in ruhmreicher Schlacht), ferner an der Doktrin vom "bellum iustum": Für Hortleder "schade[te] sie der der [sic] Reputation des Fürsten", und "Mitchristen gegen unrechmäßige Gewalt beizustehen" sei Christenpflicht (215). Besagter Doktrin wegen rangen alle Beteiligten intensiv mit der Gerechtigkeitsfrage; ein Weimarer Gutachten vom Mai 1619 erörterte wortreich, ob pfälzische Parteinahme in Böhmen "iusta oder iniusta" sei, es kam zu folgendem Schluss: Es seien "der Böhmen arma iusta", Hilfe für Ferdinand sei "dagegen iniusta" (zit. 228). Selbstvergewisserungen, wonach der böhmische Widerstand natürlich als "religion krieg", nicht als "region krieg" einzustufen sei, sind so häufig, dass die entsprechenden Zitate hier gar nicht aufgelistet werden können: Das Deutungsangebot der Hofburg, wonach es in Böhmen ungehorsame Rebellen zu bekämpfen gelte, erzielte außerhalb Dresdens keinerlei Resonanz im Reich. Im Mai 1620 begründete Johann Ernst seine Parteinahme vor dem Landtag denn auch mit der Behauptung, es handle sich in Böhmen "hauptsechlich" um einen "Religions krieg", Ferdinand führe in Böhmen "ein[en] vngerechte[n] krieg". Subsidiär strich er heraus, ihn dürste "nach dapferer ehr vnd ruhm" (zit. 279f.). Diese und viele andere Quellenzitate sind aufschlussreich für die konzeptionellen Voraussetzungen der großen vormodernen Bellizität.

Axel Gotthard