Claudia Deglau / Kerstin Droß-Krüpe / Patrick Reinard u.a. (Hgg.): Volker Losemann - Antike und Nationalsozialismus. Gesammelte Schriften zur Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte II (= Philippika. Altertumswissenschaftliche Abhandlungen; 160), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, XXII + 454 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-11839-2, EUR 98,00
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Verba volant, scripta manent. So lautet ein Sprichwort. Als nach dem Zweiten Weltkrieg kaum jemand mehr als Mitläufer von Faschismus und NS gelten wollte, man verschwieg, verleugnete und vergaß, stand scripta manent auch als bittere Anklage gegen Wissenschaftler, die Hitler, Mussolini, Rassenlehre und faschistische Ideologie mit ihren Publikationen unterstützt hatten. Es brauchte Jahrzehnte, bis der Prozess der Aufarbeitung in Gang kam. Heute haben wir eine gute Übersicht. Einen Grundstein hat Volker Losemann geliefert; gewiss ein Werk, das bleibt.
Das dauerhaft in Werken Geschriebene bedarf freilich immer wieder der Worte, neuer Worte. Lebendig bleiben Schriften nur, wenn Menschen sich wieder mit ihnen befassen. In diesem Sinne legen die Herausgeberinnen und Herausgeber diesen Band vor. Sie haben ihrerseits wichtige Publikationen zur Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte verfasst. Zu ihrer Herausgeberschaft zählen die herzlichen Wünsche ad multos annos anlässlich des achtzigsten Geburtstags des Autors am 6. Juni 2022. In einem einleitenden Beitrag würdigt der bekannte Althistoriker Josef Wiesehöfer das Werk des Jubilars. Dieses bildet einen bleibenden und wichtigen Beitrag zur Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte der Wissenschaften vom Altertum und insbesondere der Teildisziplin Alte Geschichte.
Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte hat spätestens seit dem Erscheinen des Lexikons Der neue Pauly (1996-2003) einen festen Platz im Gefüge der Classics. Volker Losemann hatte selbst hat im Neuen Pauly in einem ausführlichen Beitrag das Thema "Antike und Nationalsozialismus" behandelt. Dieser Lexikonartikel fehlt zwar im vorliegenden Band. Dafür enthält er dessen Grundlage, nämlich die epochemachende, aber vergriffene Dissertation, welche die Verstrickungen zwischen Altertumswissenschaft und NS sorgfältig aufgearbeitet hat. Sie wurde 1977 publiziert und trägt den Titel Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933-1945. Weiter bietet der Band zehn zum Teil nicht leicht zugängliche Publikationen des Autors. Sie gliedern sich in drei Bereiche und überschneiden sich mit dem Gegenstand der einst beim Marburger Althistoriker und Altmeister Karl Christ (1923-2008) entstandenen Dissertation: "Nationalsozialismus" - "Arminius und die Germanen" -"Sparta". Ein Schriftenverzeichnis findet sich im ersten Band der Gesammelten Schriften Volker Losemanns. Er trägt den Titel Klio und die Nationalsozialisten und ist 2017 im gleichen Verlag erschienen.
Das Werk Volkers Losemanns hat vielfältige Impulse vermittelt. Diese sind Teil breiterer Entwicklungen. Das gewachsene Interesse für die Geschichtlichkeit von Wissenschaften - und darunter gerade auch der Geschichtswissenschaften selbst - zählt dazu, ebenso die kritische Analyse patriotischer Erinnerungskulturen. Die spezifisch deutsche Aneignung der Antike konnte so im Rückblick auf eine lange Forschungstätigkeit unlängst Stefan Rebenich in seinem eindrucksvollen Buch Die Deutschen und ihre Antike (2021) darstellen. Demnächst wird Jasmin Welte in der beim Verlag Schwabe in Basel publizierten Reihe Antike nach der Antike den Band Helmut Berve und die Alte Geschichte. Eine deutsche Biographie vorlegen. Angekündigt beim Teilverlag Antike der Vandenhoeck & Ruprecht Verlage ist weiter ein neues Buch von Uwe Walter: Hellas und das große Ganze. Die alten Griechen in "Weltgeschichten" zwischen Geschichtswissenschaft, Buchverlagen und historischer Bildung.
Weiter genannt seien die Zeitschriften: Anabases, Classical Receptions Journal, International Journal of the Classical Tradition und Quaderni di Storia. Von Buchreihen sei wenigstens noch Classical Presences (Oxford University Press) erwähnt. Im Werk der heute bekanntesten Althistorikerin Mary Beard spielt die Analyse der Geschichte der Wissenschaften immer wieder eine zentrale Rolle. Hingewiesen sei nur gerade auf ihre glänzende Darstellung The Invention of Jane Harrison (2000). Der vor einigen Jahren in den USA entstandene Streit um die politisch korrekte Deutung von Altertum und Wissenschaften vom Altertum, vor allem der Classics, hat das Interesse für solche Themen befeuert. Zu erinnern ist etwa an Donna Zuckerbergs Buch Not All Dead White Men. Classics and Misogyny in the Digital Age (2018). Die Verweise auf die Geschichte des Altertums bei den Rechtfertigungen der Kriegführung in der Ukraine bieten die jüngsten Beispiele, die einmal mehr vor Augen führen, wie wichtig es ist, die Geschichte wissenschaftlicher Traditionen und deren Verwendung für politische Zwecken zu kennen. Für die Geschichtswissenschaft selbst und deren Arbeit an historischen Rekonstruktionsversuchen sind Kompetenzen in den weiten Gebieten der Traditionskritiken unerlässlich. Volker Losemanns Werk wird dabei zweifellos weiterhin einen wichtigen Referenzpunkt bilden.
Beat Näf