Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Alexander Schunka, Berlin


Michel-Rolph Trouillot, Silencing the Past: Power and the Production of History [1995], Boston 2015.
Im anglo-amerikanischen Bereich längst ein kulturwissenschaftlicher Klassiker, für mich eine Neuentdeckung: Der haitianisch-amerikanische Historiker und Anthropologe Trouillot (1949-2012) beschreibt, wie historische Narrative entstehen, wie sie andere überlagern, welche Rolle Machtstrukturen dabei spielen und worin die Rolle von Historiker*innen liegt. Flott formuliert, teils in persönlich gehaltenem Ton und mit autobiographischen Einsprengseln, gelangt das kleine Buch in drei konzentrischen Kapiteln von einem Protagonisten der Haitianischen Revolution, dessen Erinnerung zum Schweigen gebracht wird, über die "vergessene" Geschichte der Revolution Haitis bis zum Kolumbus-Narrativ von der "Entdeckung" Amerikas. Die Entstehung des Werks ist geprägt von den Debatten rund um die Jubiläen 1989 und 1992, doch sind seine Aussagen aktuell wie selten: Gerade jetzt, angesichts manch erbittert geführter kultureller Deutungskämpfe, lohnt sich eine (Re-)Lektüre. Und manche Freunde Preußens mögen vielleicht überrascht sein, was der Name Sanssouci denn mit der Karibik zu tun hat.

Ronya Othmann, Vierundsiebzig. Roman, Hamburg 2024.
Das Buch dürfte durch Shortlists und Feuilletons zumindest dem Titel nach den meisten bekannt sein. Es ist wahrhaftig keine erbauliche Weihnachtslektüre, dennoch sei es nachdrücklich empfohlen. Die collageartigen Kapitel dieses (Nicht-)'Romans' changieren zwischen Reisebericht, Gesprächsprotokoll, Familiengeschichte, Gerichtsreportage und kulturgeschichtlichen Exkursen. Erzählt wird das Schicksal des Volks der Êzîden und der Kampf seiner Angehörigen um ein Weiterleben nach dem Genozid von 2014 - zwischen kurdischer Heimat und deutscher Diaspora. Selbst denjenigen, die sich mit der Geschichte und Kultur des Nahen Ostens beschäftigen, dürfte manches neu sein. Ganz im Sinne Michel-Rolph Trouillots lässt sich das Buch als Versuch verstehen, gegen ein "Silencing the Past" anzuschreiben, und das auf überaus engagierte Weise und ohne schockierendste Details auszusparen.

Andreas Bähr, Der grausame Komet. Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg, Hamburg 2017.
Der Schweifstern gehört zur weihnachtlichen Ikonographie wie Ochs und Esel - doch besonders besinnlich geht es in diesem Kometenbuch nicht zu. Erzählt wird die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, und zwar höchst lebendig anhand des Umgangs mit Kometenerscheinungen. Intellektuelle des 17. Jahrhunderts kommen ebenso zu Wort wie einfache Leute; man lernt etwas über Kriegsverläufe genau wie über die Weltdeutungen der Menschen. Ein Epilog führt bis ins 20. Jahrhundert. Hier sieht man, wie sich vermeintlich ausgeforschten Themen etwas völlig Neues abgewinnen lässt - und dass frühneuzeitliche Geschichte großes Unterhaltungspotenzial besitzt, zumal wenn sie so erzählt wird wie hier. Unter allen Büchern zum Dreißigjährigen Krieg, die rund um das Jubiläum von 2018 und seither erschienen sind, ist dies mein klarer Favorit.

Leigh Penman, Prophecy, Madness, and Holy War in Early Modern Europe: A Life of Friedrich Ludwig Gifftheil, Oxford 2023.
Man muss vielleicht schon ein gewisses Faible für Abseitiges haben, um dieses Buch gern auf dem Gabentisch vorzufinden. Doch die Lektüre lohnt: Hier wird rund um eine eher marginale Figur ein Panorama bizarrer Persönlichkeiten entfaltet, die das 17. Jahrhundert jenseits des religiösen Mainstreams erkunden. Der Protagonist Gifftheil tritt uns entgegen als Bettler und Prophet, als Theologe der dritten Reihe und Projektemacher, als Militarist und selbsternannter Heerführer, vor allem aber als unsteter Reisender durch Europa in Vorbereitung auf den Weltuntergang. Geprägt vom Dreißigjährigen Krieg, ist er irgendwo zwischen Böhme und den Pietisten anzusiedeln, doch so wichtig ist das nicht: Das grundgelehrte Buch basiert auf vielsprachiger Literatur und detektivischer Quellensuche, es ist glänzend geschrieben und kommt nicht ohne gewisse ironische Distanz gegenüber seinem Protagonisten aus. Ein wenig erinnert es an eine spätabendliche Berliner U-Bahnfahrt: hier sind mehr Verrückte unterwegs, als man zunächst erwarten würde.

Wiglaf Droste / Nikolaus Heidelbach / Vincent Klink: Wurst, Köln 2006.
Über Wurst muss dringend mehr publiziert werden: Angesichts der Tendenz zum Veganen könnte es sich bei ihr bald um ein musealisierbares Objekt der Vergangenheit handeln. Anstöße zur empirischen Forschung bietet dieses - gelegentlich etwas anstößig illustrierte - Buch zuhauf: historische Rezepte (die sich in Seminaren für die Generation Z vielleicht nur bedingt zur Quellenlektüre eignen würden), Betrachtungen aus der europäischen Ethnologie ("Bavarian Weißbier-Breakfast"), globale Entanglements ("Metzelsuppe in Thailand"), konsumgeschichtliche Erörterungen ("Wurst im Sozialismus") und vieles mehr. Hinweise zur Zubereitung von Blutwurst finden sich hier ebenso wie zeitgenössische Lyrik. "Die Wurst stirbt zuletzt" - diesem letzten Satz des Werkes ist wenig hinzuzufügen. Es sollte in keiner Mensa fehlen.