Geschenktipps (nicht nur) zu Weihnachten

Silvia Negri, Zürich


Annette Kehnel: Die sieben Todsünden: Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise, Hamburg: Rowohlt 2024
Seit Jahrhunderten wissen wir, wie schädlich es ist, aus der Balance zu geraten, nicht nur für einzelne Körper und Seelen, sondern auch für ganze Ökosysteme. Bereits in antiken Kulturen wurde die menschliche Existenz mit einem Gefühl der Störung des kosmischen Gleichgewichts verknüpft. Gleichzeitig war es geteiltes Wissen, dass man gegen die Ursachen dieses Ungleichgewichts aktiv vorgehen kann und muss, in Worten wie in Taten. Dieses Bewusstsein beziehungsweise Erfahrungswissen blieb zumindest bis in die sogenannten Moderne erhalten. Die Gefahren des Ungleichgewichts im Ganzen und des Übermaßes im Einzelnen wurden über Jahrhunderte hinweg benannt, gezählt, gepredigt, gemalt und bekämpft. In der westlichen vormodernen Tradition wurden sie als die «sieben Laster», später «Todsünden», sichtbar. Annette Kehnel untersucht die Geschichte des traditionellen westlichen Wissens über die Wiedergutmachung und bietet auf unterhaltsame, gut orchestrierte und quellenfundierte Weise Einblicke in die Hauptlaster der westlichen Tradition sowie deren Heilmittel - Massnahmen, Vorstellungen von ausgewogenen Charakterzügen, gute Praktiken, Ritualen. Das Buch erhebt einen Themenkomplex, der bisher vor allem dem philosophisch-moralischen oder historisch-kulturellen Diskurs überlassen wurde, zu einem zentralen Anliegen einer symmetrischen historischen Anthropologie.

Dorothea Weltecke: Die drei Ringe: warum die Religionen erst im Mittelalter entstanden sind, München: C.H. Beck 2024
Dorothea Weltecke beschreibt die Ausformung der Religionen der Christen, Juden und Muslime als «geschlossene soziale Formationen» im Zeitraum zwischen dem 7. und 15. Jahrhundert. Von vornherein macht sie jedoch klar, dass «Religionen» kein quellenadäquater Begriff ist; Vielmehr sollte man für diese Zeit von Glaubenstraditionen sprechen. Glaubenstraditionen entwickelten sich schrittweise zu geschlossenen Systemen mit Exklusivitätsanspruch. Dabei waren die Aushandlungen der sozialen und rechtlichen Stellung verschiedener Gruppen innerhalb einer auf Ungleichheit basierende Ordnung treibend. Das Buch veranschaulicht diesen Prozess anhand verschiedener Quellen aus einer breiten Region- «Zentral- und Westasien, Nord- und Ostafrika, den Mittelmeerraum und die europäischen Lande bis zum Nordmeer und zum Atlantik» (S. 17) - neu. Im Mittelpunkt stehen die Interaktionen zwischen Menschen - nicht nur, und nicht vornehmlich, Theologen - an Orten, sowohl realen als auch vorgestellten, der Begegnungen und Rivalität. Es beleuchtet ihre Repräsentationen, Praktiken, Riten und Kulte, ebenso wie die Artefakte, die sie sie produzierten und nutzten. Besonderes Augenmerk gilt den (Pilger)-Reiseberichten, Unterhaltungserzählungen und erbauliche Schriften, die sie verfassten und konsumierten. Das Ergebnis ist ein vielschichtiges und provokantes Geflecht von Geschichten gegenseitiger Verwobenheit.

Henrike Lähnemann / Eva Schlotheuber: Unerhörte Frauen: die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter, Berlin: Propyläen 2023
Das Buch bietet eine erfrischende, lebendige und zugängliche Perspektive auf vormoderne Frauenklöster im deutschsprachigen Raum. Klosterräume und ihre Nutzung, Alltagsabläufe sowie symbolisch bedeutsame Momente, wie die Nonnenkrönung, stehen im Fokus. Ebenso beleuchtet werden routinierte Interaktionen und Spannungen innerhalb des Klosters sowie zwischen Nonnen und Akteur:innen ausserhalb des Klosters. Planungen und Umsetzungen, zum Beispiel des Unterrichtes für Klosterschülerinnen, Machtverhältnisse und dichte Netzwerke, geteilte und widersprüchliche Erwartungen sowie in Schrift und Bild dargestellte Emotionen und Gedanken werden anhand von schriftlichen Dokumenten und Artefakten thematisiert. Die Stimme der Nonnen wird in diesem Buch hörbar. Die Tagebuchaufzeichnungen einer Zisterzienserin (vermutlich gest. im Jahr 1507) aus dem im 13. Jahrhundert gegründeten Kloster Heilig Kreuz bei Braunschweig sowie eine umfangreiche Briefsammlung der Benediktinerinnen aus dem Kloster Lüne (ca.1460-1560) bieten Henrike Lähnemann und Eva Schlotheuber - neben anderem Quellenmaterial - eine einzigartige Grundlage, um die Lebensverhältnisse der Nonnen zwischen dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert neu zu erzählen.

Herman Paul: Historians' virtues : from antiquity to the twenty-first century, Cambridge / New York : Cambridge University Press 2022
Welche Charaktereigenschaften Historiker:innen besitzen oder besitzen sollten, ist eine Frage, die seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert wird. Herman Paul zeigt einem nicht im Thema vertieften Publikum mit großer Anschaulichkeit und sorgfältig ausgewählten Kontexten und Figuren - vom antiken Griechenland bis zum frühen Kaiserreich Chinas, vom Deutschland und England des 19. Jahrhunderts bis zu den gegenwärtigen USA -, dass Diskurse über die Tugenden der Historiker:innen allgegenwärtig waren. Bereits in den antiken griechischen und römischen Kulturen waren das historische Schreiben und dessen Produkte eng mit dem Charakter der Schreibenden verknüpft. Dass der Stil eines historischen Textes als Spiegel der Persönlichkeit der Autor:in gilt, hatte eine nachhaltige Wirkung. Doch aus diachronischer und transkultureller Perspektive herrschte kein Konsens darüber, welche Tugend(en) zu privilegieren seien, da die Vorstellungen über Grund und Sinn der Geschichtsschreibung vielfältig waren. Dank dieser historischen Reise durch die Vorstellungen von virtue ethics für Historiker:innen erfahren die Leser:innen, wie unterschiedliche Diskurse über Tugenden (wie Mut, Unparteilichkeit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Demut) mit verschiedenen historiographischen Sensibilitäten einhergingen, Arbeitspraktiken beeinflussten und mitgestalteten und schließlich Mechanismen von Inklusion und Exklusion prägten.

Lorraine Daston: Rules. A Short History of What We Live By, Princeton: Oxford: Princeton University Press 2022
Wir leben mit Regeln, und könnten ohne sie nicht auskommen, stellt Lorraine Daston in der Einleitung des Buches fest. Gleichzeitig verspüren wir jedoch ein zunehmendes Unbehagen gegenüber Regeln, insbesondere wenn Sorgen um Entmenschlichung und Tyranneien des Algorithmus ins Spiel kommen. Bevor Algorithmen zum Inbegriff von Regeln wurden, ein Prozess, das sich allmählich in den letzten zweihundert Jahren vollzog, wurden Regeln auch als Modelle und Paradigmen verstanden, verschrieben und praktiziert. Konkrete Menschen, Artefakte, und Bücher fungierten dabei als Massstab. Nach einer Regel zu handeln, bedeutete, dies zunächst zu verstehen und herauszufiltern, was und wie es nachzueifern galt. Regeln wurden und werden weiterhin als Normen oder Gesetze erfasst und ausgelebt, ob partikuläre oder universell, weltlich oder überirdisch. Regeln dienten und dienen dazu, auf Mikro- und Makroebene «Inseln von Stabilität und Voraussagbarkeit» (S. 5, Übersetzung SN) mitzugestalten. Doch wie sahen Regeln aus (ausführlich oder knapp, streng oder flexibel, allgemein oder spezifisch), und wie funktionierten sie? Die longue durée - das Buch umfasst über 2000 Jahre Geschichte und analysiert Schriften, visuelle Medien und Objekte- ermöglicht es der Wissenschaftshistorikerin, eine bemerkenswerte Spannung zwischen Konstanten und Variablen historisch aufzudecken.