Birgit Weyhe: Rude Girl, Berlin: Avant 2022.
Dieses Geschenk kommt bei ganz unterschiedlichen Lesenden gut an: Birgit Weyhes Graphic Novel "Rude Girl" verfolgt die Lebensgeschichte von Priscilla, einer Schwarzen Frau in den USA, die später Germanistin wird und stellt die Bedeutung, die Geschlecht, Klasse, Migration und race für dieses Leben haben, in den Mittelpunkt. Scheinbar ganz nebenbei wird die Verwobenheit (Intersektionalität) dieser Konfigurationen erklärt und gemeinsam mit der Protagonistin reflektiert. Weyhe gelingt, auch zeichnerisch, ein kritischer und zugleich anschaulich erzählter Blick auf Sexismus und Rassismus, auf Herkunft und Beheimatung - und darauf, wie diese Themen überhaupt zeichnerisch dargestellt werden können. (Ich freue mich jetzt schon auf ihr nächstes Werk, "Schweigen", das im Mai 2025 erscheint.)
Katharina Mückstein: Feminism WTF, Österreich 2023.
Als DVD ist endlich "Feminism WTF" von Katharina Mückstein erschienen. Eine heitere, kluge, visuell ansprechende und absolut sehenswerte Einführung in die Geschlechterforschung, in feministische Theorien und feministischen Aktivismus. Ein Film, der sowohl geeignet ist für alle, denen dieses Feld eher unbekannt ist, als auch für diejenigen, die sich gut auskennen. Es ist eine Freude, die Interviews, die Mückstein für den Dokumentarfilm mit Maisha Auma, Persson Perry Baumgartinger, Astrid Biele Mefebue, Nikita Dhawan, Sigrid Schmitz, Franziska Schutzbach, Paula Villa Braslavsky, Emilene Wopana Mudimu u.a. geführt hat, anzusehen. Die Expert*innen schildern aus ihrer jeweiligen fachlichen und persönlichen Perspektive die Entwicklung der Geschlechterforschung und zentraler Fragestellungen von Biologie über Erziehung zu Care-Arbeit, Gewalt u.a.
Karolina Kühn / Mirjam Zadoff (Hgg.): To Be Seen. Queer Lives 1900-1950, München: Hirmer 2023.
Wer die Ausstellung über LGBTIQ*-Personen in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im NS-Dokumentationszentrum München verpasst hat (wie ich), hat mit diesem Katalog viel zu lesen und anzuschauen. Das etwas teurere Geschenk im silbrig-glänzenden Einband macht nicht nur optisch viel her, sondern zeigt die Pluralität queeren Lebens anhand einzelner Menschen, Institutionen, Orte, Publikationen u. a. Das zahlreich und in hoher Qualität abgebildete Material sowie die Begleittexte laden zum Schmökern ein über Verfolgung und widerständige Praktiken und über einen wichtigen Aspekt deutscher Geschichte, der immer noch zu wenig sichtbar ist, auch in der historischen Forschung.
Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock, Berlin: Suhrkamp 2023.
Der Roman von Dana Vowinckel ist mein persönliches Lektüre-Highlight in diesem Jahr! Die fünfzehnjährige Margarita ist bei ihren jüdischen Großeltern in den USA zu Besuch. Widerwillig verbringt sie die Zeit dort und kann die Rückkehr nach Berlin kaum erwarten, Doch plötzlich muss sie auch noch ihre Mutter in Israel besuchen, an die sie keine Erinnerung mehr hat. Ausgerechnet! Mit der poetischen und zugleich verdichtet-genauen Sprache ist das Buch mehr als eine Coming-of-Age-Geschichte: ein Panorama jüdischen Lebens in Deutschland, USA und Israel, eine Familiengeschichte mit einem überbesorgten Vater, einer meist abwesenden Mutter und einer dazwischen zerrissenen Teenagerin. Nicht zuletzt ein melancholisch stimmender Blick auf die multiplen Krisen der Gegenwart. Ein echter Pageturner.
Charlotte Gneuß: Gittersee, Frankfurt am Main: Fischer 2023.
Die deutsche Zeitgeschichte und eine jugendliche Protagonistin sind auch in diesem Roman der Dreh- und Angelpunkt. Charlotte Gneuß skizziert das lieblose Leben von Katrin in der DDR sowie die (mögliche) Flucht ihres Freundes Paul. Denn diese hat subtile wie gewaltvolle Konsequenzen: Familie, Freundschaften, Schule, Stasi als Leserin verfolgen wir, wie das Leben und die Zukunft von Katrin Schritt für Schritt zerstört wird. Auch, dass sie sich am Ende zur Wehr setzt - spoiler alert -, ändert nichts an der Ausweglosigkeit dieser Lebensrealität in der DDR der 1970er Jahre.