Jonas Stephan: Tinte, Feder und Kanonen. Der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis am Vorabend des Spanischen Erbfolgekrieges (1701) (= Verhandeln, Verfahren, Entscheiden. Historische Perspektiven; Bd. 8), Münster: Aschendorff 2024, 447 S., ISBN 978-3-402-14671-2, EUR 65,00
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Der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis hat schon früh das Interesse der Forschung gefunden. Den Anfang seiner wissenschaftlichen Erschließung machten in den 1930er Jahren die Braubach-Schüler Walter Isaacson, Karl Haberecht und Kurt Arnold. [1] Ihre Dissertationen über die Epoche von 1648 bis 1714 sind bis heute maßgeblich. Allerdings liegt der Schwerpunkt ihrer Ausführungen auf der politischen und militärischen Entwicklung des Kreises. Strukturen, informellen Spielregeln, kommunikativen Bedingungen, Zeremoniell und Verfahren sowie sozialen und kulturellen Prägungen der Akteure schenkten sie keine besondere Aufmerksamkeit. Hier nun versucht Jonas Stephan mit seiner von Peter Oestmann und Barbara Stollberg-Rilinger betreuten Münsteraner Dissertation neue Wege zu gehen. Er will zum einen die von Volker Press 1982 erhobene Forderung, das Reich und seine Bestandteile als ein politisches System unter verfassungs- und sozialgeschichtlicher Fragestellung zu betrachten, am Beispiel des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises einlösen. Zum anderen will er die von Barbara Stollberg-Rilinger seit der Jahrtausendwende entwickelte Kulturgeschichte des Politischen für seine Erforschung fruchtbar machen.
Stephan gliedert seine Doktorarbeit in drei große Teile. Im ersten Teil berichtet er zunächst über den Forschungsstand. Dann skizziert er auf der Grundlage von Handbüchern und Gesamtdarstellungen die Entwicklung im Reich und in Europa nach dem Westfälischen Frieden und referiert in enger Anlehnung an die Studien der genannten Braubach-Schüler die ereignisgeschichtlichen Abläufe im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis von 1648 bis 1700. Anschließend beschäftigt er sich mit Überlieferung und Struktur der Kreisakten. Im zweiten Teil stellt er die Ämter des Kreises vor und beschreibt unter formalen Gesichtspunkten das Verfahren auf Kreistagen. Im dritten Teil bietet er eine Fallstudie, in der die konkrete Politik des Kreises im Jahr 1701 detailliert geschildert wird.
In zweierlei Weise hat Stephan archivalische Quellen herangezogen. Zum einen hat er für alle Kreisstände die vorhandenen online-Findmittel eingesehen, die darin aufscheinende Quellentektonik untersucht und die ihnen beigegebenen Erläuterungen ausgewertet. Zum anderen hat er in Engführung auf die Jahre 1700 bis 1702 Archivalien selbst eingesehen (415-421 u. Anm. 237). Dabei hat er einen Schwerpunkt auf die brandenburg-preußische Überlieferung gelegt, da die Hohenzollern über Kleve, Mark, Ravensberg und Minden Kreisstände im Niederrheinisch-Westfälischen Zirkel waren. Neben den einschlägigen Kreisakten im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz hat er den Bestand Kleve-Mark im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen konsultiert. Ergänzend hat er insbesondere die dort aufbewahrten Bestände der Fürstbistümer Münster und Paderborn sowie des Kreisarchivs eingesehen.
Seine Quellen will Stephan nicht nur inhaltlich ausbeuten; vielmehr möchte er aus der äußeren Form wie auch aus inneren Merkmalen der Quellen Einblicke in ansonsten verborgene politische Tiefenschichten gewinnen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss man die Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit beherrschen. Leider ist der Autor davon weit entfernt. Ein Beispiel: Er meint fälschlich, ein Kreisabschied, eine der wesentlichsten Quellen für seine Arbeit, entspreche "in Vielem nicht dem klassischen Urkundenschema". Im "Hauptteil" erzähle der Abschied nur den Verlauf des Kreistages "als Fließtext" nach; er stelle also "eine einzige große Narratio dar"; Stephan verkennt, dass jeder Kreisabschied selbstverständlich als Kern eine Dispositio enthält, in der rechtserhebliche Beschlüsse niedergelegt sind. Der "Schlussteil" eines Abschiedes enthalte, so Stephan, eine Liste der "Unterschreibenden", die seiner Ansicht nach statt ins Eschatokoll in die Narratio gehöre, eine "Siegelzeile" und die Unterschrift des Kreissekretärs als "Gegenzeichnung" (223); diese Missverständnisse lassen sich nur dadurch erklären, dass der Autor eine beglaubigte Abschrift des Abschieds vor sich hatte, wie sie jeder Kreisstand erhielt, nicht jedoch ein authentisches Exemplar mit eigenhändigen Unterschriften und Besiegelung, das bei den Kreisdirektoren aufbewahrt wurde. Aber weder Abschrift noch Unterhändlerausfertigung oder Vergleich verändern die herkömmliche Grundstruktur und Funktion einer Urkunde in der von Stephan angenommenen Weise.
Quellenkundliche Unkenntnis zieht Fehldeutungen nach sich. So führt Stephan etwa breit aus, dass die Kreisdirektoren Kreisabschiede trickreich harmonisiert und alle Streitigkeiten zu Tagesordnungspunkten darin übergangen hätten. Diese irrige Auslegung beruht einzig darauf, das er eben in einem Abschied eine Dispositio nicht zu identifizieren vermag, die nüchtern materielle Rechtsinhalte aufführt.
Wenig aussagekräftig sind die Quellen hinsichtlich des diplomatischen Zeremoniells auf Kreistagen. Zwar nimmt der Verfasser etwa an, dass es sich am Traktament der höchsten Diplomatenklasse der Ambassadeurs, also der Repräsentanten souveräner Monarchen, orientiert habe. Quellenbelege für dessen Anwendung unter den in die Lehnsordnung des Reiches eingebundenen Kreisständen kann er aber nicht beibringen (155, 173, 241). Auch manche anderen Verfahrensweisen bleiben im Halbdunkel, weil sie sich um 1701 bereits eingespielt hatten und auf den damaligen Kreisversammlungen nicht mehr eigens thematisiert wurden. Insofern ist die Wahl des Untersuchungszeitraums misslich.
Der ansprechendste Teil der Dissertation ist die quellengesättigte Beschreibung der kreisständischen Beratungen im Jahr 1701. In deren Zentrum standen damals die Fragen nach der Einrichtung einer Kreisgarnison in der Reichsstadt Köln, der Kreisarmatur insgesamt sowie der Haltung des Niederrheinisch-Westfälischen Zirkels zu einer Assoziation der oberen Reichskreise; diese Themen wurden auf einer Konferenz der Kreisdirektoren und auf zwei Kreistagen erörtert, deren Verlauf Stephan plastisch schildert. Ausdrücklich als "Fallstudie" angelegt, wird jedoch kein Transfer geleistet, der das gewählte Beispieljahr explizit in einen größeren Zusammenhang einordnet und generalisierende Einsichten herausarbeitet. Eine argumentative Verknüpfung mit den vorhergehenden Blöcken der Dissertation findet sich nicht. Stattdessen endet die eigenständige Quellenauswertung durch den Verfasser an der Jahreswende 1701/1702, und die Darstellung läuft aus in eine knappe Skizzierung der weiteren Ereignisse bis zum Frieden von Rastatt 1714, und zwar allein nach Kurt Arnolds Doktorarbeit von 1937.
In dieser Vorgehensweise wird das Grundproblem des zu besprechenden Buches deutlich. Leitfragen und Aussageabsichten sind nicht klar herausgearbeitet. Was eigentlich gezeigt, bewiesen oder widerlegt werden soll, bleibt vage. Deshalb werden zwar viele Themenkreise angeschnitten, aber nicht in einen schlüssigen Argumentationszusammenhang gebracht. Zudem erscheint es angesichts der sehr differenten Entwicklungsstadien, in denen sich die einzelnen Kreise befanden, fraglich, ob man andernorts vorfindliche Verfahrensweisen auf den Niederrheinisch-Westfälischen Zirkel übertragen darf, zumal wenn kein tertium comparationis nachweisbar ist. Aus diesen Gründen vermag die Dissertation von Jonas Stephan nicht zu überzeugen.
Anmerkung:
[1] Walter Isaacson: Geschichte des niederrheinisch-westfälischen Kreises von 1648-1667, Dinslaken 1933; Karl Haberecht: Geschichte des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises in der Zeit der französischen Eroberungskriege (1667-1697), Düsseldorf 1935; Kurt Arnold: Geschichte des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises in der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges (1698-1714), Düsseldorf 1937; vgl. Winfried Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998.
Hans-Wolfgang Bergerhausen