Rezension über:

Maris Saagpakk / Antje Johanning-Radžienė / Rūta Eidukevičienė u.a. (Hgg.): Baltische Erzähl- und Lebenswelten. Kultur-, literatur-, translations- und sprachwissenschaftliche Aspekte (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Bd. 87), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, 484 S., ISBN 978-3-11-138118-3, EUR 59,95
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Rezension von:
Cornelius Hasselblatt
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Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Cornelius Hasselblatt: Rezension von: Maris Saagpakk / Antje Johanning-Radžienė / Rūta Eidukevičienė u.a. (Hgg.): Baltische Erzähl- und Lebenswelten. Kultur-, literatur-, translations- und sprachwissenschaftliche Aspekte, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 9 [15.09.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/09/40621.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Maris Saagpakk / Antje Johanning-Radžienė / Rūta Eidukevičienė u.a. (Hgg.): Baltische Erzähl- und Lebenswelten

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Der Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die unter Federführung der Universität Tallinn in Kooperation mit den Universitäten von Kaunas und Marburg sowie dem Herder-Institut im September 2020 online durchgeführt wurde. Die Herausgeberinnen, die größtenteils mit dem Organisationsteam der Tagung identisch sind, haben einen geschickten Titel gewählt, der weit genug gefasst ist, um möglichst viele Bereiche abzudecken, andererseits aber auch konkret genug, um einen Eindruck vom Gegenstand zu geben: Man weiß sofort, in welchem geografischen Raum man sich bewegt, und erhält zudem eine Andeutung der Themenbereiche, die durch den etwas sperrigen Untertitel sicherheitshalber noch näher bezeichnet werden. Tatsächlich ist dieser Untertitel auch notwendig, denn ohne ihn wüsste man vermutlich gar nicht, worum es geht - Weitgefasstheit wäre dann nämlich gleichzusetzen mit Schwammigkeit. Denn was genau ist mit einer Erzählwelt, einer Lebenswelt gemeint?

Der Begriff der Lebenswelt geht auf Edmund Husserl zurück, wie die Herausgeber sofort in ihrer Einleitung erklären, und "zeichnet sich durch Unschärfe aus [...]. Husserl unterlässt es, den Begriff eindeutig zu definieren. Er entwickelt ihn vielmehr in Abgrenzung zur objektiven Wissenschaft". (9) Das klingt vielleicht überraschend in der Einleitung zu einem Sammelband mit Beiträgen einer wissenschaftlichen Tagung, ist aber intendiert. Denn der Begriff Lebenswelt deckt genau das ab, was viele (str)eng wissenschaftlich definierte Disziplinen nicht können, wodurch eine Inter-, Multi- und Transdisziplinarität bezeichnet wird, um die genau es hier geht. So jedenfalls fasst der Rezensent es auf. Der locker-lose formulierte Titel, den die Herausgeber überdies als "zwei Zauberworte" (9) bezeichnen, eröffnet alle Möglichkeiten und bietet jedem Beitrag eine Heimstatt. Man kann das auch negativ interpretieren - schließlich gehört alles irgendwie zum Leben und ist damit Teil einer Lebenswelt - und bei einigen Beiträgen drängt sich dieser Gedanke auch auf, aber letztendlich überwiegt der positive Gesamteindruck. Kein einziger Aufsatz fällt völlig aus dem Rahmen oder ist unter Niveau, das sei klargestellt. Nur ist bei manchen Beiträgen die Beziehung zum lokalen und thematischen Rahmen vielleicht weniger intensiv als bei anderen. Das aber ist ein Problem, das sich bei Konferenzbänden (wie auch bei den Konferenzen selbst) nur schwer vermeiden lässt.

Laut Einleitung (11) nahmen 62 Personen an der Konferenz teil, aufgenommen in den Sammelband sind 27 Beiträge von insgesamt 33 Autoren und Autorinnen. Damit wird ein repräsentativer Überblick über die Vielfalt der Konferenz geboten. Thematisch wurden die Artikel in sieben Blöcke aufgeteilt, die jeweils zwei bis fünf Beiträge enthalten, von denen im Folgenden einige vorgestellt seien.

Im ersten Abschnitt "Erzählte Lebenswelten: Narratologische Aspekte" sind Martin Klökers "Überlegungen zu den narratologischen Strukturen in den Protokollen der Estländischen Ritterschaft" hervorzuheben. Sie geben einen wertvollen Einblick in dieses bislang in der Forschung stiefmütterlich behandelte Textgenre aus dem 17. Jahrhundert, der in dem Fazit gipfelt: "Über die protokollarische Fixierung der Abläufe [...] hinaus enthalten die Ritterschaftsprotokolle auf mehreren Ebenen grundlegende Erzählungen aus dem baltischen ländlichen Leben". (51) Damit wird die fachübergreifende Relevanz dieser Quelle eindrucksvoll bestätigt.

Dasselbe gilt für Beata Paškevicas Beitrag im zweiten Abschnitt "Baltische Lebenswelten in (auto-)biographischen Zeugnissen": Mit ihrer Erschließung der livländischen herrnhutischen Lebenswelt anhand von Lebensläufen der lettischen und deutschen Geschwister der Brüdergemeine nutzt sie eine interessante und bislang relativ wenig beachtete Quelle, die aber seit 2017 immerhin in das nationale Register des UNESCO-Weltdokumentenerbes aufgenommen worden ist. Und ganz nebenbei entdeckt sie auch noch die ersten aufgezeichneten Lebensläufe lettischer Frauen (90).

Der dritte Block ist mit "Repräsentation von Lebenswelten in literarischen Texten" überschrieben und enthält fünf Beiträge. Bei ihnen ist die Subsumierung unter "Lebenswelten" sicherlich nicht falsch, aber eben auch etwas beliebig. Es sind in erster Linie literaturwissenschaftliche Betrachtungen, die sich auf einzelne Autorinnen oder Autoren oder auch größere Werkgruppen beziehen. Zu Recht weisen Benedikts Kalnačs und Rolf Füllmann darauf hin, dass postkoloniale Fallbeispiele nicht nur im fernen Süden zu finden sind, sondern auch gleichsam direkt vor der Haustür, im vorliegenden Fall in der lettischen Literatur. Fabio Ramasso unternimmt einen Rehabilitierungsversuch von Werner Bergengruen, Māra Grudule legt eine Detailstudie zu Siegfried von Vegesack vor, während Aigi Heero auf das Werk der armenisch-russischen Autorin Gohar Markosjan-Käsper, die in Estland gelebt hat, eingeht. Hier sind "Intertextualität" und "Migration" die Stichworte. Innovativ ist der Ansatz zur Gastropoetik von Sigita Kušnere, die eine Materialsammlung zur Repräsentation von Hunger in literarischen Texten vorlegt und den Weg zu weiteren Forschungen ebnet.

Im vierten Block mit dem Titel "Verschwundene Lebenswelten und ihre Erinnerungsnarrative" liegt der Schwerpunkt auf tatsächlich untergegangenen Welten und ihrer Wiedergabe bzw. Erinnerung in der Gegenwart. Exemplarisch kann der Beitrag von Marko Pajević genannt werden, der Chris Kraus' Spielfilm Poll (2010) analysiert.

Ebenfalls vier Beiträge enthält der fünfte Block: "Selbst- und Fremdkonstruktionen des Baltikums". Hier gibt Nicole Pohls "'Patriotische Unterhaltungen'. Patriotismus und Kosmopolitismus im aufklärerischen Kurland" zweifellos einen guten Überblick über die internationale Einbettung und besondere Lage in Kurland, bloß stören einige terminologische Unschärfen: Wer sind "livonische Leibeigene" (250), wer ist die "ethnisch baltische" Bevölkerung (250), wer oder was ist ein "ethnischer Kurländer" (244)? Und wie ist der Satz "Ethnisch und sprachlich war Kurland eine Einheit mit einer eigenen ostbaltischen Sprache" (243) aufzufassen? Wann war das so? Hier scheint sich eine Außenstehende auf ein Terrain zu wagen, auf dem sie nicht standfest ist, da hätte das Herausgeber-Team ruhig eingreifen können. Andreas Degens "Johann Georg Kohls Bericht über die Esten (1840/41). Ein Fallbeispiel zur Genese und Rezeption von populärem Wissen im 19. Jahrhundert" ist eine schöne Darstellung zu diesem bekannten Reiseschriftsteller, die einige neue Aspekte liefert. Das gleiche trifft auf Kristina Jõekalda zu, deren Beitrag "'Heimat', 'Nation' und 'Kulturnation' als Kernbegriffe der baltischen und estnischen 'Denkmalpädagogik' in den 1880er bis 1930er Jahren" einen guten Überblick über die unterschiedlichen Auffassungen gibt und endlich auch einmal die blinden Flecke vermeintlicher Koryphäen aufzeigt, indem sie Georg Dehios berühmtes Zitat von 1927 anbringt, demzufolge "die Esten und Letten keine eigene Kultur besitzen und schwerlich jemals besitzen werden". (288) [1] Nicht zuletzt vor dem Hintergrund solcher Aussprüche (und Haltungen) ist ja überhaupt erst die besondere Lebenswelt, mit der wir es hier zu tun haben, zu begreifen.

Von den fünf Artikeln im Block "Kulturtransfer und Interkulturalität" ist Ave Mattheus' profunde Darstellung zum estnischen Gesundheitskatechismus als Beispiel deutsch(baltisch)-estnischen Kulturtransfers hervorzuheben. Er bringt neue Erkenntnisse und Ergebnisse, was die Tätigkeit von Johann Wilhelm von Luce betrifft. Genauso wichtig ist Liina Lukas' Untersuchung "Die 'neue Frau' in der alten Welt. Baltische Dichterinnen und ihre Haltung zur Frauenfrage am Ende des 19. Jahrhunderts." Zwar beruht der Beitrag auf bereits auf Estnisch erschienenen Texten, aber ihre Bereitstellung im Deutschen ist natürlich begrüßenswert.

Der letzte Block "Mehrsprachigkeit und Translatologie" entfernt sich vielleicht am weitesten vom Thema "Lebenswelten", wenngleich auch hier gilt: Mehrsprachigkeit und übersetzungswissenschaftliche Fragestellungen gehören natürlich auch dazu. Und selbstverständlich hat Terje Loogus' Artikel "Estnische Literatur in deutschsprachiger Übersetzung. Eine Bestandsaufnahme der Daten des Informationszentrums der estnischen Literatur" etwas mit kultureller Interaktion zu tun, allerdings befinden wir uns hier plötzlich (teilweise) im 21. Jahrhundert, was im Gesamtbild der sonstigen Ausrichtung des Sammelbandes etwas aus dem Rahmen fällt.

Aber letztendlich kann das den insgesamt positiven Eindruck des Sammelbands nicht trüben. Die Mehrheit der Beiträge ist eine deutliche Bereicherung für das Forschungsfeld, teilweise werden auch neue Gebiete erschlossen, neue Wege angedeutet. Dann nimmt man in Kauf, dass manches von weniger Belang ist, etwa wenn es um litauische Reiseführer, die Deutsche Schule in Riga oder einen individuellen Fall von estnisch-lettischem Bilingualismus geht: Auch diese Beiträge haben selbstverständlich ihre Berechtigung, bloß verwässern sie etwas den schönen Titel der "Erzähl- und Lebenswelten".


Anmerkung:

[1] Georg Dehio: Vom baltischen Deutschtum, in: Mitteilungen der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums / Deutsche Akademie (1927), 10, 341-345, hier 344.

Cornelius Hasselblatt