Milena Svec Goetschi: Klosterflucht und Bittgang. Apostasie und monastische Mobilitaet im 15. Jahrhundert (= Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft; Bd. 7), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, 550 S., ISBN 978-3-412-50152-5, EUR 70,00
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Bereits der Titel des Werkes von Milena Svec Goetschi verweist auf die unterschiedlichen Aspekte ihrer nun veröffentlichten Dissertation: das Phänomen der mittelalterlichen Klosterflucht lässt sich am besten anhand der Suppliken und Verurteilungsakten der geflohenen Mönche rekonstruieren. Dabei zeigt sich, dass ein Weggang aus dem Kloster nicht immer gleich Apostasie bedeuten musste, denn die Archivalien verdeutlichen, dass die monastische Mobilität viele Gründe und auch unterschiedliche Konsequenzen haben konnte. Wie sich diese feinen Unterschiede feststellen lassen, zeigt uns Svec Goetschi anhand eines breiten Quellencorpus von fast 1000 Suppliken aus der römischen Pönitentiarie, sowie einiger lokaler - aus den Diözesen Konstanz und Augsburg stammender - Archivalien. Auf Basis dieses umfangreichen Quellenbestands lässt sich das Thema der Klosterflucht erstmals in breiterem Umfang darstellen. In dieser Hinsicht füllt die Dissertation Svec Goetschis eine Forschungslücke, deren Bearbeitung lange auf sich warten ließ und fügt sich in eine Reihe von aktuellen Studien ein, die die Tätigkeit der römischen Pönitentiarie untersuchen.
Die Autorin verankert ihre Untersuchung im 15. Jahrhundert, einer Zeit großer Veränderungen für die religiösen Orden, denn viele unterlagen verschiedenen Reformbestrebungen, weil sich, so Svec Goetschi, die Strenge der vita religiosa des 11. und 12. Jahrhunderts stark abgemildert hatte. Diese These ist durchaus diskutabel. Doch Svec Goetschis Buch belegt, dass das Problem der Klosterflucht im Spätmittelalter tatsächlich in vielerlei Hinsicht untersuchenswert ist. Die Fragestellung der Arbeit - was ist unter monastischer Mobilität zu verstehen? - mag vielleicht nicht pointiert genug erscheinen, doch der Aufbau der Argumentation beweist, dass die Menge an verarbeitetem, heterogenem Quellenmaterial nur dank einer offenen Herangehensweise und Fragestellung bearbeitet werden konnte.
Svec Goetschi präsentiert zunächst das mittelalterliche juristische Verständnis der Apostasie und ihres legalen Pendants, des transitus. In einem zweiten Teil bearbeitet sie die Suppliken aus dem Repertorium Poenitentiariae Germanicum und dem Repertorium Germanicum und analysiert unzählige Schicksale entflohener Mönche und Nonnen, um die Praxis des Rechts zu verdeutlichen. Im letzten Teil geht sie detaillierter auf bestimmte Fälle ein.
Nach einer Diplomatikeinleitung wird anhand zahlreicher ausgewählter Suppliken erläutert, wie die Religiosen legale Möglichkeiten an der römischen Kurie nutzen konnten, um ihre Situation rechtlich zu klären. Die Bittschriften erreichten entweder die Pönitentiarie oder die päpstliche Kanzlei - ein Unterschied, den Svec Goetschi fallweise zu eruieren versucht -, und hatten die Rehabilitierung des Mönches oder der Nonne zum Ziel.
Die Autorin analysiert präzise jede Quelle, die sie bearbeitet und liefert ein genaues Bild der beschriebenen Situationen. Die Beweggründe der entflohenen Religiosen sollten in den Bittschriften gerechtfertigt werden und variieren deshalb genauso stark wie die Zahl der Fälle an sich. Svec Goetschi versucht nichtsdestotrotz stets eine Kategorisierung vorzunehmen und eine übergeordnete Argumentation herauszukristallisieren. Gestützt auf statistische Hilfsmittel (wie Diagramme) bündelt sie die Ergebnisse ihrer Recherchen und zeigt auf, ob grundsätzliche Unterschiede zwischen weiblicher oder männlicher Klosterflucht bestanden, ob die Wahl der Observanz eine Rolle spielte oder auch ob die klösterlichen Reformbestrebungen des Spätmittelalters die Klosterflucht beeinflussten. So wird beispielsweise verdeutlicht, dass Frauen - im Gegensatz zu den Männern, deren Bittschriften genau davon künden - weniger aus 'Leichtsinn' das Kloster verließen, denn aus einer durchdachten Überlegung heraus, wobei sie zumeist den legalen Weg des transitus bevorzugten. Die Autorin betont, wie wichtig der Habit bei der Flucht war. Während das Ablegen des Habits die Strafe erschwerte, konnte das Tragen des Ordenskleides zwar gefährlich für die entlaufene Person werden, im Prozess selbst aber strafmindernd wirken. Svec Goetschi beweist bei der Darstellung dieser Sachverhalte eine bemerkenswerte Akribie.
Der dritte Teil der Arbeit widmet sich mehreren Fallstudien, darunter der berühmten Klosterflucht von Ottobeuren (211-272), die Svec Goetschi chronologisch darstellt. Dank der Auswertung lokaler Archivalien gelingt es ihr, in in den Fallstudien aufzuzeigen, dass die Durchführung einer ungewollten Reform in einem Kloster zur Flucht mehrerer Religiosen führen konnte. Sie beweist ebenfalls, dass die Konfrontation lokaler Quellen mit den an den Papst gesandten Bittschriften zu einer objektiveren Darstellung des Sachverhaltes beitragen kann. Dabei bestätigt sie ihre theoretischen Aussagen.
Darüber hinaus bietet Svec Goetschis Veröffentlichung einen äußerst umfangreichen Anhang, bestehend aus der Edition einiger Quellen, vor allem aber aus einer auf der Grundlage des gesamten Archivaliencorpus erstellten Liste aller Apostasie- und Transitusfälle (366-455). Die Liste ist nach Diözesen und Klöstern geordnet, so dass eine bequeme Handhabung gewährleistet ist. Zusammen mit den Fallstudien bildet diese Liste den harten Kern der Arbeit: neue Erkentnisse werden gebündelt, gleichzeitig aber auch Material für weitere Forschungen (etwa zur Mobilität der Religiosen - ein Thema, das durchaus Nachholbedarf hat), zur Verfügung gestellt.
Svec Goetschis Arbeit demonstriert eindrucksvoll, dass landläufige, seit Jahrhunderten etablierte Vorstellungen von entlaufenen Mönchen durch eine grundsätzliche Auswertung der Quellen hinterfragt und korrigiert werden können.
Coralie Zermatten