Gudrun Krämer: Der Architekt des Islamismus. Hasan al-Banna und die Muslimbrüder. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2022, 527 S., ISBN 978-3-4067-8177-3, EUR 34,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Michaela Hoffmann-Ruf / Abdulrahman Al Salimi (eds.): Oman and Overseas, Hildesheim: Olms 2013
Michael A. Reynolds: Shattering Empires. The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires 1908-1918, Cambridge: Cambridge University Press 2011
Irene Bierman / Sylvie Denoix: L'exercise du pouvoir à l'âge des sultanats. Production, manifestation, réception, Kairo: Institut français d'archéologie orientale 2012
Şevket Küçükhüseyin: Selbst- und Fremdwahrnehmung im Prozess kultureller Transformation. Anatolische Quellen über Muslime, Christen und Türken (13-15. Jahrhundert), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2011
Jane Hathaway (ed.): Al-Jabarti's History Of Egypt, Princeton: Markus Wiener Publishers 2009
Laurent Murawiec: The Mind of Jihad, Cambridge: Cambridge University Press 2008
Hamed Abdel-Samad: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland, Köln: Fackelträger Verlag GmbH 2009
Klausen Jytte: The Cartoons That Shook the World, New Haven / London: Yale University Press 2009
Als im Arabischen Frühling 2012 in Kairo der mit Muslimbrüdern liierte Muhammad Mursi an die Macht kam, wurden Ideen Hasan al-Bannas (1906-1949) wahr. Doch der Präsident wurde ein Jahr später abgesetzt, die Muslimbrüder wurden verboten, blieben jedoch im Fokus. Forschende sehen ein Problem: Obwohl es Memoiren des Gründers der Muslimbruderschaft und die offizielle Enzyklopädie gibt, fehlten solide Biografien. Den Dreiklang zum Leben und Werk zu enthüllen, was offen gesagt, still beraten und dann unterm Strich realisiert wurde, war die Herausforderung.
Hier setzt die Islamwissenschaftlerin Krämer an. Zur Quellenlage beklagt sie, arabische Literatur sei zu al-Banna zwar reich, aber hagiografisch, feindselig oder politisch. Zudem könne man dies nicht durch "westlich koloniale Archive" angehen. Die am Nil seien versperrt, wo Muslimbrüder nach Mursis Sturz als "Terrorverein" gelten. Deren Medien seien nicht digitalisiert, Privatpapiere kaum erhalten oder nicht offen. Vieles wurde bei Polizei-Aktionen, Vereinsende und beim Brand im Hauptquartier vernichtet oder verborgen.
Dies betrifft nicht alle Archive, Zeiten oder Quellen. Es gibt "nichtkoloniale Archive", so in Amerika, Arabien oder Deutschland zu Phasen vor, in und nach den Weltkriegen. Diese wenig erkundet zu haben, bringt Unschärfen: das Wort "Islamismus" gab es längst vor 1900 (145), ihn entflammte der Erste Weltkrieg. "Islamist" als Identität ist älter. Bei ihr sind es isoliert lokale Kräfte, die sich der "westlich-kolonialer Überwältigung" widersetzten. Doch haben die Lokalen "antikoloniale Westler" durch Berater, Waffen, Gelder und Jihad-Ideen beflügelt. Krämer fehlen solche Archivalien zur Jihadisierung des Islamismus in Weltkriegen.
Dennoch nennt sie den Schullehrer al-Banna "Architekten und Baumeister des Islamismus", der die erste islamistische Organisation schuf (7). Zuvor gab es ähnliche Vereine wie al-Mahdiyya samt as-Sanusiyya (für Churchill 1885 "Jihadiyya"). Al-Bannas Vater war Uhrmacher, geboren 1882 im Jahr als Briten den Nilstaat besetzten, wogegen Ahmad Urabi Jihad ausrief. Al-Banna prägten auch Islam-Reformer wie al-Afghani, Abduh und Rida, die ihre Moderne suchten, die an-Nahda. In as-Salafiyya-Strömen folgten sie Vorbildern der Altvorderen, as-Salaf as-Salih.
So verfolgt die Autorin al-Bannas Werden in neun Kapiteln. Die Ära ab 1900 brachte viel Neues für Mehrheiten an Analphabeten, meist auf dem Land. Krämer erhellt es am Streit, ob die Koran-Rezitation per Phonograph erlaubt sei. Rashid Rida sah Handlungen und Einrichtungen zulässig, solange diese keine bindende Aussage in Koran und Sunna verbiete. Al-Banna trennte auch zwischen festen Werten und wertneutralen Techniken: Ja zur religiösen Erbauung, Nein zur puren Unterhaltung. Dennoch folgten Konflikte zu Glauben und Wissen. Farid Wajdi meinte, der wahre Islam wurde durch unzulässige Neuerungen und verwerfliche Dinge entstellt. Er warnte, Europäer nicht blind zu kopieren. Reformer hätten den Islam nach Europas Idealen europäisiert. Abd al-Aziz Jawish fragte, ob Europäer (Pan-) Islamismus gegen Muslime richten.
Das antikoloniale Aufbegehren gegen Briten und deren Stützen 1919 riss auch al-Banna in seiner Grundschule von Mahmudiyya im Nildelta mit. Bald belegte er eine dreijährige Ausbildung zum Schullehrer in Damanhur. Kernpunkte waren Arabisch und Islamstudien. Sufi-Bruderschaften lernte er kennen, wobei sein Vater der ash-Shadhiliyya angehörte. Sie gingen oft mit Bünden der Wohltätigkeit einher, wie die al-Hasafiyya, wobei al-Banna diesen Verein später zur Keimzelle seiner Muslimbruderschaft erklärte (68). Der islamischen Moral zu folgen, hieß für ihn, auch Christen-Missionare anzugehen, die ihren Jungmännerverein gründeten - ein Rivalen-Vorbild.
Al-Banna schrieb und verteilte Flugblätter. Er schloss 1923, ein Jahr, nachdem Ägypten unter König Fuad I. seine Unabhängigkeit erhielt, das Lehrerseminar ab und studierte am Kairener Dar al-Ulum. Das war die Hochschule für Arabisch-Lehrer an Grundschulen. Seinem Freund Ahmad as-Sukkari erklärte er, Wahrheit beruhe auf Forschen und Wissen, einer Art des Jihads. Der lebte auf, zumal die liberale Verfassung Zensur verbot. Noch 1922 betrauten Türken Jawish mit einer Islamismus-Kampagne, beendeten diese aber bis 1924 wie das Sultanat und Kalifat, indes Briten und Franzosen neue Mandate für Palästina oder Staaten wie Transjordanien bildeten.
Al-Banna verbreitete die islamische Botschaft, ad-Dawa, und hielt als Mahner Ansprachen in Kaffees. In Islamistischen Gründerdekaden edierte er 1928 Ideen zur ad-Dawa im Wochenblatt al-Fath. Ihm nach stand der Islam im Krieg, aber seine Führer fehlten. Wer Fähige für Jihad kenne, nenne sie ihm. Dazu zählte laut Krämer (116, 49) auch Jawish, der al-Banna länger kannte und in Kairo Chefinspektor für das Schulwesen wurde.
Islamist in deutsch-osmanischen Kreisen Berlin-Istanbuls im Weltkrieg, jihadisierte Jawish über das Journal "Die Islamische Welt" seit 1912 Islamismus, zumal er Bruderschaften in Indien und Arabien gründen sollte. Ko-Editor Abd al-Malik Hamza notierte seine Islamismus-Theorie 1916. Er regte 1917 an, in Istanbul eine Muslimbruderschaft mit Filialen in Islamländern zu bilden. Als al-Banna Arabischlehrer in al-Ismailiyya war, entstand Kairos muslimischer Jungmännerverein. Ihn leiteten Abd al-Hamid Said, Muhibb ad-Din al-Khatib und Jawish. Auch al-Khatib kannte Jerusalems Großmufti al-Husaini. Trugen Jawishs Ideen zum Islamismus im Weltkrieg in Berlin, Istanbul, Jerusalem und Kairo auch zu al-Bannas Bruderschaft in al-Ismailiyya 1928 bei?
Dort am Sueskanal gab es eine britische Militärbasis, Ausländer und Sufi-Bruderschaften. Ein halbes Jahr dort, bildete al-Banna im März 1928 mit einer Gruppe die Muslimbrüder, Jamaiyyat al-Ikhwan al-Muslimin. Sie schworen sich die Treue. Nach Kairo zogen sie 1932. Phase drei reicht bis Kriegsbeginn 1939 und Phase vier bis zum Verbot 1948 und zu al-Bannas Ermordung 1949. Ihm ging es um Moral, Wissen und Verhalten, auch um Frömmigkeit mit Militanz (8). Er trug 1929 den Verein als gemeinnützig ein. Sie expandierten, wobei der Baumeister Uthman A. Uthman als al-Bannas Schüler der Gruppe viel half. Muslimschwestern, Hauptkonferenzen und Zweige in Ägypten kamen hinzu. Ihr Glaubensbekenntnis nannte den Propheten als Führer, den Koran als Verfassung und den Jihad als Weg. Wie Krämer bilanziert (403), blieb al-Banna ein Hauptvorbild für "nicht-jihadistische Islamisten zwischen Marokko und Malaysia".
Laut Autorin agiert al-Banna als Gründer, Murshid-Leiter und beseelter Organisator, Redner und Publizist. Geschickt bettet sie ihn in Ideenströme ein. Etwas kurz kommen Ägyptens Linke. Und Nazis. Sie bestätigt deren Mittel an al-Bannas Verein (319), den jeder beeinflussen wollte: erst Rom, dann Berlin und London. Sie meint, deutsche Gelder stoppten 1939, aber einige liefen über Dritte weiter. Briten gaben sehr Obacht, so musste die Armee den jungen Anwar as-Sadat 1942 wegen Kontakten zu Deutschen entlassen.
Die Autorin erzählt anregend. Ihre historischen Illustrationen sind trefflich und legen Spuren zu Palästina, zum Zionismus und Großmufti, den al-Banna über seinen Verein ins Bild setzte und der dessen Hauptquartier besuchte. Ideologien, die eine Rasse oder Nation über andere stellten, habe al-Banna abgelehnt (198). Gudrun Krämer legt ein empfehlenswertes Fundamentalwerk zu Ägypten, Mittelost und Europa vor, das dort gleichermaßen räsonieren mag.
Wolfgang G. Schwanitz